Schneegeflüster
bin eine sehr ernste Person.«
»Das habe ich bereits bemerkt.«
Charlotte wusste plötzlich, woran sie seine dunkelbraune Augenfarbe erinnerte. An die flüssige Schokolade, nach der es in dieser wundervollen Backstube neben vielem anderen roch.
»Hätten Sie am Donnerstag Zeit für einen Spaziergang? Gegen fünf bin ich hier in der Backstube fertig, dann kann ich Sie von zu Hause abholen. Vorausgesetzt, Sie verraten mir, wo Sie wohnen.«
»Ich wohne am Kohlmarkt 3«, sagte Charlotte.
»Das ist aber eine vornehme Adresse.« Richard Reindl pfiff durch die Zähne.
»Ich wohne nur vorübergehend dort.« Charlotte wollte jetzt nicht über die Heiratspläne ihrer Tante nachdenken.
»Also dann, bis Donnerstag um fünf.« Der Zuckerbäcker fasste Charlottes Hand und hauchte ihr einen zarten Kuss auf den Handrücken. Zum ersten Mal in ihrem Leben fand Charlotte diese Geste aufregend. Und der Blick, den er ihr zum Abschied schenkte, ließ ihre Wangen erneut erglühen.
Am Mittwochabend kam der Metallknopffabrikbesitzer Kasper von Schelling erneut zu Besuch. Charlotte ließ sich von Marie in das verhasste Korsett helfen.
»Nicht so fest, sonst kollabiere ich beim Essen«, sagte Charlotte, und Marie hielt sich daran.
Während des Diners gelang es Charlotte, eisern zu schweigen. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass ihr das angestrengte Lächeln zu einem stummen Grinsen geriet.
»Im Sommer werden wir ausbauen und eine weitere Fabrik in der Wiener Neustadt eröffnen. Die Geschäfte laufen großartig. Der einzige Wermutstropfen sind die Arbeiter mit ihren unverschämten Forderungen. Neuerdings verlangen sie, die Arbeitszeit von vierzehn Stunden zu verringern. Hat man so etwas schon gehört?« Der Fabrikant nahm sich zum vierten Mal von dem Konfekt, das zum Kaffee gereicht wurde.
Nun konnte Charlotte nicht mehr stillhalten. »Wie viele Stunden am Tag arbeiten Sie denn?«, fragte sie spitz.
»Ich arbeite praktisch ständig. Auch jetzt, wenn ich hier sitze und mich mit Ihnen unterhalte, denke ich über die Verkaufszahlen der letzten Monate nach.« Er grinste Charlotte selbstgefällig an.
Charlotte seufzte innerlich, es war sinnlos. Sie stellte sich vor, der nette Richard Reindl mit den hellen Locken und den dunklen Augen sitze ihr gegenüber. Das munterte sie unerwartet auf, und während Charlotte an den freundlichen Zuckerbäcker dachte, war Tante Emilia mit ihrer Nichte sehr zufrieden.
Kurz vor Mitternacht verabschiedete sich der Fabrikant. Er küsste allen drei Frauen die Hand, und diesmal hatte
Charlotte nach dem Handkuss das dringende Bedürfnis, sich sofort die Hände zu waschen. Als er gegangen war, saßen Charlotte, Sophie und die Tante noch beisammen.
»Mama, du musst zugeben, dass von Schelling ein furchtbarer Angeber und ein Langweiler ist«, bemerkte Sophie. »Außerdem hat er nach einem viergängigen Menü allein drei Schachteln voll Demelkonfekt gegessen.«
Charlotte warf der Cousine einen dankbaren Blick zu. Zu ihrer Überraschung nickte Tante Emilia: »Du hast recht. Der Mann ist ein unverschämter Vielfraß, dabei ist er jetzt schon mehr breit als hoch. Er hatte sogar die Dreistigkeit, nach drei Schachteln voll Konfekt noch mehr zu verlangen.« Die Tante hatte stattdessen trockene Butterkekse bringen lassen. Danach war der Fabrikant rasch aufgebrochen.
»Ich werde ihn nicht mehr einladen«, beschloss Tante Emilia. Doch dann fügte sie hinzu: »Aber mach dir keine Sorgen, mein Kind. Wir werden nach einem anderen geeigneten Heiratskandidaten suchen.« Zuversichtlich tätschelte sie Charlottes Arm und stand dann gähnend auf. Es war spät geworden.
Sophie und Charlotte blieben allein zurück. Nach einer Weile sagte Sophie: »Mutter hat Angst, dass du in dem Armenviertel genau wie dein Vater am Lungenfieber sterben könntest. Sie hat ihren Bruder sehr geliebt. Deshalb wünscht sie sich einen reichen Ehemann für dich.«
Charlotte schluckte hart. Tatsächlich hätte sie ohne die Tante weiterhin in ihrer feuchtkalten Wohnung bleiben müssen.
»Hast du niemals Angst, dass sich Max Stingel nach eurer Hochzeit als Despot und Tyrann entpuppt?«, fragte sie ihre Cousine.
Sophie schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir nicht vorstellen. Max ist der gutmütigste Mensch, den ich kenne.«
Charlotte lächelte. In Wirklichkeit war die sanftmütige, freundliche Sophie eine sehr schlaue junge Frau.
Am Donnerstag läutete Richard Reindl pünktlich um fünf Uhr am Haus am Kohlmarkt 3. Charlotte selbst
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