Schneekind
schicken, fuhr sie sachlich fort. Um Alex Mund erschien ein schmerzhafter Zug, der mich an Christa erinnerte.
Giftmord. Während die Frau mit den kleinen, schwarzen Augen sprach, hämmerte das Wort in meinem Kopf. Giftmord. Ich musste sogar einen Würgereiz unterdrücken, um nicht laut damit herauszuplatzen: Wie bei Daniela Wächter!
Natürlich sagte ich nichts.
Um 23.15 Uhr fuhr uns Frau Buck nach Hause, die erfahrene Krankenschwester, die Friedrichs Tod an den Fall des Richters erinnert hatte. Es stellte sich heraus, dass Frau Buck Christa bereits seit der Schulzeit kannte. Sie gab uns ein Päckchen mit Schlaf- und Beruhigungstabletten mit: „Falls Christa was braucht.“
Vorsichtig steuerte sie das Auto durch die Nacht. Als wir die Donau überquerten, begannen die Glocken zu läuten. Überall brannten Lichter. Ich sah, wie Alex Tränen über die Wange liefen. Wenn er etwas verschwieg, da war ich mir sicher, dann aus Liebe.
„Eine Obduktion?“ Sylvias Gesicht blieb äußerlich reglos. Am Morgen des 25. Dezembers saßen wir alle nach einer kurzen Nacht um den Küchentisch versammelt und nippten an dem Johanniskraut-Tee, der aus Christas eigenem Anbau stammte. Alle, bis auf Hendrik, der sich noch nicht einmal telefonisch nach Friedrichs Befinden erkundigt hatte. Im Gegenzug hielt es auch niemand für notwendig, ihn über den Tod seines Vaters zu informieren. Hendrik sei gestern Nacht kurz nach dem Krankenwagen aufgebrochen, sagte Sylvia; sie gehe davon aus, dass er in seine Wohnung gefahren sei.
„Sollen wir das Papa wirklich antun?“, fragte Sylvia und zog den Bademantel enger um ihre Taille.
„Um Gottes willen“, sagte Christa und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, die ihr wirr um den Kopf standen: „Nein.“
Christa muss eine schreckliche Nacht hinter sich gehabt haben. Zudem stand sie unter dem Einfluss der Tabletten, die Alex ihr verabreicht hatte. Trotzdem kam sie mir an diesem Morgen schöner vor als tags zuvor. Ich musste sie immer wieder ansehen: Ihr Gesicht wirkte seltsam hell, als hätte der Schock es erleuchtet.
„Können wir das überhaupt verhindern?“ Sylvia sah ihrem Bruder fest in die Augen.
„Ich weiß es nicht“, stieß Alex hervor. „Ich weiß es nicht.“
„Mir macht auch weniger die Obduktion Sorgen als …“
Er brach den Satz ab, den er ohnehin nur geflüstert hatte.
„Hoffen wir nur, dass sie die Proben nicht nach Tübingen schicken“, sagte Sylvia, die ihren Bruder verstanden zu haben schien.
Tübingen? Ich spürte das warme Glas Tee in meiner Hand, dann Sylvias Angst. Warum nicht nach Tübingen?
Die Universitätsstadt verfügte – im Unterschied zu Sigmaringen – über ein toxikologisches High-Tech-Labor, sollte ich später erfahren. Mit modernen Trennverfahren wie der Hochdruck-Flüssigkeitschromatografie könnten selbst millionstel Gramm einer Substanz nachgewiesen werden, vor allem, wenn man einen konkreten Verdacht hatte, nach welcher Substanz man suchen musste. Schwieriger wäre es allerdings, wenn kein Anhaltspunkt vorlag und es sich um pflanzliche und tierische Toxine handelte, die schwerer nachweisbar seien als Metalle oder Arzneistoffe.
Ich sah sie an. Sylvias Stirn verriet nichts von den Sorgen, die sie umtrieben. Warum waren Sylvia und Christa eigentlich nicht mit ins Krankenhaus gefahren? Was, wenn Friedrich auf der Intensivstation nach seiner Frau gefragt hätte? Oder wusste Sylvia, dass ihr Vater sterben würde? Sie war ja Ärztin.
„Um Gottes willen“, sagte Christa wieder. Sie war in einen viel zu großen Morgenmantel gehüllt, der auf der Brusttasche die verschlungenen Initialen F.M. zeigte. „Ich verstehe das einfach nicht. Friedrichs Herz war doch gesund.“
„Mama, hör auf damit“, sagte Sylvia. „Es war kein Herzinfarkt.“
„Aber was dann?“
Alex und Sylvia blickten sich an. Es war der Blick einer verschworenen Gemeinschaft. Es war der Blick von Geschwistern.
Viele Angehörige, die einen geliebten Menschen verloren haben, berichten, dass es ihnen in der ersten Zeit geholfen habe, konkret Dinge organisieren und erledigen zu können. Auch uns ging es so. Um 8.20 Uhr erhoben wir uns vom Küchentisch. Jeder zog sich etwas Altes an. Alex lieh mir einen Anorak. Christa trug einen gemusterten Pullover, einen ihrer größten Fehlkäufe, bemerkte sie lapidar. Sogar Sylvia, die ich bisher nur in Seide und Abendgarderobe gesehen hatte, kam in einer alten Cordhose und einem Lodenmantel zurück. In dieser Aufmachung trafen
Weitere Kostenlose Bücher