Schneeköniginnen
Strohmatte, irgendwo in Südindien, und verdämmerte die Tage
zwischen mönchisch kahlen Wänden und dem Bildnis eines greisen, langhaarigen
Erleuchteten mit stechenden Augen. In Tiefenmeditation versunken, paßte er seine
elementaren Bedürfnisse denen einer Larve im Winterschlaf an, was ihm selbst zu
göttlicher Glückseligkeit, seinem Meister hingegen zur Einsparung der
Unterhaltskosten verhalf. So in etwa schilderte ihnen Samuel die Situation.
»Was will ein Normalsterblicher schon gegen einen Guru ausrichten?«
Da er an diesem Verlust noch schwer
knabberte, waren ihm diese Freundinnen seiner Cousine, die er im übrigen schon
seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, eine willkommene Abwechslung. Anne und
Katie wiederum ließen sich nach ihrem Gefängnisaufenthalt gerne von ihm
bemuttern und bekochen.
Samuel Ziegenbalgs Wohnung in
Georgetown unterschied sich deutlich von Lis’. Sie lag in einem unscheinbaren
Apartmenthaus am Rande der Stadt, war weder trendy noch hip, ziemlich klein und
bis an die Decken vollgestopft mit antiken Möbeln und Büchern. Bücher, nichts
als Bücher, wohin man sah. Das war leicht zu erklären, denn Samuel war Dozent
für englische Literatur an der University of Maryland.
»Hat dort nicht Edgar Allan Poe
studiert«, erkundigte sich Anne Stunden später beim Abendessen mit angemessener
Ehrfurcht.
»Lieber Himmel, nein«, antwortete
Samuel pikiert, »das war die University of Virginia, in Charlottesville, etwa
zwei Autostunden südlich von hier. Sie ist ein architektonischer Schatz, ihr
müßt sie unbedingt besichtigen. Übrigens, wißt ihr, daß Poe in Baltimore
geboren wurde?«
»Sicher«, bejahte Katie ohne jeden
Skrupel, »und wißt ihr, wer noch?«
»Wer denn?« fragte Anne überrascht.
»Frank Zappa.«
Anne und Samuel wechselten einen
tiefen Blick, der ausdrückte: >Es ist absolut hoffnungslos, das ist die
Nintendo-Pepsi-McDonalds-Generation; wenn Poe einen Rap geschrieben hätte,
würde sie wahrscheinlich die Stufen seines Elternhauses ablecken.<
Sie schleppten Samuel noch am selben Abend
in die Bar gegenüber seiner Wohnung, in der er früher Stammgast gewesen war,
zusammen mit Frederick, dem noch nicht Erleuchteten.
Samuel und Anne unterhielten sich
stundenlang bei ein, zwei Gläsern Wein über fossile Literaten, während Katie
sich zu Tode langweilte. Endlich fand sie einen Partner zum Billard, den sie
mit ein paar billigen Tricks um fünfzig Dollar erleichterte. Die Kerle begingen
immer wieder den gleichen Fehler: Sie unterschätzten sie kolossal.
An diesem Abend gingen sie für ihre
Verhältnisse früh zu Bett. Was für ein herrliches Gefühl, wieder in einem
richtigen, bequemen Bett zu liegen, dachte Anne und kam sich vor, als hätte sie
Jahre im geschlossenen Vollzug verbracht.
»Katie? Macht es dir wirklich nichts
aus, auf der Luftmatratze zu schlafen?« Ganz leichte Gewissensbisse beschlichen
Anne.
»Ist mir total egal, Prinzessin. Ich
hab schon wesentlich schlechter gelegen.« Es war Katie wirklich egal. Auch die
geplante Abschiebung von Anne hatte sie auf einen unbestimmten späteren
Zeitpunkt vertagt. Sie konnte Anne doch nicht einfach sitzen lassen, nachdem
sie von ihr zum zweitenmal gerettet worden war.
Dazu kam, Katie war abergläubisch wie
drei alte Mesnerinnen, weshalb sie zu der felsenfesten Überzeugung gelangt war,
daß Anne ihr Glück brachte. Eine Glücksfee hatte sie sich zwar etwas anders
vorgestellt, aber man durfte da wohl nicht pingelig sein, man mußte nehmen, was
da war. Hätte eine Auswahlmöglichkeit bestanden, wäre die Glücksfee wohl eher
männlich gewesen, so eine Mischung aus Mel Gibson und Cameo... Katie seufzte.
Anne mißverstand das. »Wenn es sehr unbequem ist, können wir morgen tauschen.«
»Nein, es ist okay. Aber was meinst du
mit morgen?«
»Och, Katie! Samuel hat mir so viel erklärt,
was wir uns unbedingt ansehen müssen, da wird ein Tag nicht ausreichen.«
»Heißt das, wir müssen morgen das
Weiße Haus und den ganzen Scheiß abklappern?«
»Denk dran, ich hab’s dem Sheriff
versprochen.«
Sie mußten kichern.
»Hihi«, krähte Katie plötzlich, »wie
du Clinton einen verdammten Schwu...«
»Pscht! Du vergißt, wo wir sind.«
»Ach so, ja.« Katie fiel in einen
Flüsterton. »Also, wie du das gesagt hast, ich hätte mich bepissen können vor
Lachen!«
»Ja, das hat gesessen. Nur, als er das
mit meinem BMW entdeckte, wurde mir ein wenig mulmig.«
»Wieso? Reichsein ist hierzulande
keine Schande. Im Gegenteil,
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