Schneeköniginnen
schien
in Ordnung, nur keine Anne.
»Das ist nicht ihre Art«, meinte er zu
Gordon, »sie ist sonst ekelhaft pünktlich.«
Auch der Barmann wußte nicht, wohin
sie gegangen war. Die Sonne begann bereits zu sinken, der angereicherte Dreck
in der Atmosphäre zauberte einen wunderbaren Sonnenuntergang über den Pazifik,
aber die beiden hatten im Moment andere Probleme.
»Verdammt, jetzt könnte sie mal
langsam wieder auftauchen«, meinte Gordon ein weiteres Bier später. »Vielleicht
ist sie mit Katie unterwegs.«
»Aber dann würde sie doch anrufen...«
In dem Moment schnürte Katie pfeilgerade auf die beiden zu. Ihre Haut war falb
wie eine unreife Frucht unter der Schminke, was ihr Gesicht wie ein
nachkoloriertes Schwarzweißfoto aussehen ließ. Mit einer Stimme wie Knäckebrot,
sagte sie: »Kommt bitte mit aufs Zimmer. Ich muß euch da was erklären.«
Anne fand nur ganz allmählich wieder
zu sich selber. Ein beißender, chemischer Geruch hing hartnäckig in ihrer Nase.
Ihr Kopf schmerzte davon. Sie richtete sich auf, und das erste, was sie
wahrnahm, war der verschwommene Lichtfleck einer schwachen, nackten Birne, die
trübsinnig von einer kahlen Betondecke baumelte. Langsam holte sie die
Erinnerung ein: Der Anruf im Hotel, das Auto auf der gegenüberliegenden
Straßenseite, so ein antikes Schlachtschiff, von dem Anne die ganze Zeit über
geträumt hatte, Patricia, die ihr aus dem offenen Fenster aufgeregt zuwinkte.
Sie war erwartungsvoll eingestiegen und hatte noch keine zwei Worte mit ihr
gewechselt, als ihr plötzlich von hinten ein Lappen vor die Nase gepreßt wurde.
Dann war es ziemlich schnell Nacht geworden. Und jetzt lag sie hier, auf einer
fleckigen Matratze in einer großen Garage, leergeräumt bis auf ein rostiges,
ausgeschlachtetes Auto. Eigentlich war es nur noch das Skelett eines Autos.
Anne sprang auf, rüttelte am Garagentor und an einer schmalen Seitentür.
Verschlossen. Ein Fenster gab es nicht. Eine Dose Cola stand neben der
Matratze, und sie nahm dankbar einen Schluck. Ihre Uhr zeigte kurz vor acht. So
etwa um halb sechs hatte sie das Hotel verlassen. War es Morgen oder Abend? Wie
lange hielt das Zeug, sie vermutete, daß es Chloroform war, an? Wahrscheinlich
ist es erst Abend, schlußfolgerte sie dann. Von einer Nase voll schläft man
wohl keine vierzehn Stunden.
Lieber Himmel, erkannte sie auf einmal
glasklar, ich bin tatsächlich entführt worden. Entführt. Was für eine
Vorstellung! Haarsträubend, ja geradezu lächerlich. Ein lebendes Pfand für ein
paar Tüten weißes Pulver.
Mit der Erkenntnis kam die Reue: Was
war ich auch für eine dämliche Kuh! Mich von Patricias
»Ich-mache-mir-echt-Sorgen«-Tour einwickeln zu lassen. Das hat sie toll
hingekriegt, Kompliment. Wie sie mich wohl hier reingeschleppt haben? Sie sah
prüfend an sich herunter. Keine Spuren von Mißhandlungen zu entdecken. Sie fror
ein wenig in der kühlen Garage. Wieso habe ich bloß diesen blödsinnigen
Minirock angezogen? Anne haßte es, nicht dem Anlaß entsprechend gekleidet zu
sein. Im Moment verspürte sie weniger Angst, es überwog vielmehr die staunende
Verwunderung, und die Wut über ihre eigene Dummheit.
Was wohl Stefan im Augenblick tat? Ob
er schon Bescheid wußte? Und Katie? Jetzt mußte sie mit der Wahrheit
herausrücken. Und mit dem Stoff.
Oder?
Was, wenn nicht? Immerhin war das Zeug
so annähernd eine Viertelmillion wert. In Katies Augen eine Unmenge Geld. Anne
mußte lächeln. Wie paradox, wegen so etwas entführt zu werden. Wenn Jeff und
diese Schlampe auch nur ahnen würden, wen sie sich da geschnappt
hatten... Weiter kam sie nicht. Ein Gedanke fuhr ihr wie ein Messer durch den
Kopf. Er war so schrecklich, daß sie ihn kaum zu Ende zu denken wagte:
Womöglich steckten Patricia und Jeff gar nicht alleine dahinter, sondern —
Katie.
Katie, ja wieso nicht? Sie allein
konnte in etwa ermessen, wieviel da wirklich zu holen war. Hatte Katie sie etwa
mitgelockt, geködert mit dieser Mafiageschichte, nur um mit Jeffs Hilfe ans
ganz dicke Kapital zu kommen? Oder war die Idee während ihrer gemeinsamen Reise
gewachsen? Im Grunde war das jetzt egal.
Bleischwerer Schrecken kroch heran.
Anne schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Schläfen pochten wild, sie hatte das
Gefühl, gleich keine Luft mehr zu bekommen.
Zögernd begann sie nachzudenken. Traf
sie, Anne, nicht selber eine gehörige Portion Schuld an ihrer jetzigen Lage?
War es nicht möglich, daß Katie, trotz ihres rotzigen Gehabes, das sie
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