Schneekuesse
meisten der neugierigen Leute einmal einen Blick in diesen Garten geworfen, der durch hohe Mauern mit stacheligen Kletterrosen von der Außenwelt abgeschirmt wurde und sich bis zu den Klippen erstreckte, die so steil zum Meer abfielen, dass niemand es riskieren würde, sich auf diesem Wege dort Einlass zu verschaffen. Ja, zu gerne hätten dieselben Leute das kastenförmige Haus aus rotem Backstein, das alle anderen Gebäude an der Küste trotzig überragte, einmal von innen gesehen. Aber die Bewohner waren ungesellige Menschen, die den Kontakt zu ihren Nachbarn mieden. Gerade diese Eigenschaft steigerte das Interesse der Leute. Und sie waren sicher, das Haus auf den Klippen verbarg ein düsteres Geheimnis. Der Selbstmord des Hundes war nur der Anfang einer Kette von unheimlichen Ereignissen.
Kapitel 1
Maryville, in den achtziger Jahren
Laura
Laura wusste nicht, was sie von der Frau halten sollte. Sie war schön. Obwohl nicht mehr jung, war sie schön. Sogar schöner als Nelly, die jetzt in einem eigenen Appartement wohnte, weil sich die Freier bei ihr in Wartelisten eintrugen. Oder die aparte Ida, die zwischen Burger King und Marshmans das Sagen hatte.
Ihre Augen waren im Vorbeigehen nur ganz kurz über Lauras magere Gestalt gestreift.
Da hatte sie so ein komisches Kribbeln im Bauch gespürt, welches sie in seltsame Unruhe versetzte. Das war ungewöhnlich. Normalerweise fühlte sie nicht viel, weil sie in ihrem kurzen Leben alles erlebt hatte.
Eigentlich wollte Laura nicht lauschen, aber als sie die vollen Aschenbecher auf dem Tisch leerte, der seitlich neben der Tür stand, schnappte sie den Namen eines der Mädels auf. Automatisch horchte sie. Das Gespräch wurde jetzt in gedämpftem Tonfall geführt.
Laura wusste nicht, warum, sie vergaß jede Vorsicht, hockte sich auf den Tisch und presste das Ohr ans Schlüsselloch. Was sie hörte, ließ ihren Puls schneller schlagen. Das Kribbeln im Bauch wuchs zu einem Trommelwirbel an. Sie meinte, ihre Seele würde aus ihrer körperlichen Hülle gesprengt werden. Das Gefühl war dermaßen übermächtig, dass sie alles um sich herum vergaß.
Ein eisiger Luftzug an ihrem linken Ohr holte sie zurück in die Gegenwart.
Bevor sie sich umdrehen konnte, packte sie eine kräftige Hand im Genick und kniff so kräftig zu, dass Laura vor Schmerzen aufheulte.
Von innen wurde die Tür aufgerissen, eine ärgerliche Männerstimme fragte: „Was ist los?“
Laura wurde gewaltsam ins Zimmer gestoßen.
„Ich glaube nicht, dass sie weiter bei uns bleiben möchte. Neugierige passen nicht zu uns!“ Eine Spur sanfter zischte die Stimme hinter ihr, die zu der kräftigen Hand gehörte: „Und weißt du, was wir mit Neugierigen machen?“
Laura wurde es schwarz vor Augen, als sie das kühle Metall des Messers an ihrer Wange spürte.
Emma
Wenn er den Raum betrat, konnte sie nicht mehr atmen. So sehr sie auch um Luft rang, er sog den gesamten Vorrat auf. Für sie blieb nichts übrig. Emma ging ins Kinderzimmer, lehnte sich einen Moment lang keuchend gegen die Tapeten-Teddys an der Wand. Sie wölbten ihre roten, blauen und grünen Bäuche vergnügt vor, drehten buntgeringelte Lutscher in ihren dicken Fäustchen und lachten Emma aus.
Cid ließ ein neues Rennauto über den Plüschläufer fahren. „Äähm, Äähm, Brrrr ...“, der kleine farbige Junge mit den dunklen Locken war so vertieft in sein Spiel, dass er sie zunächst gar nicht bemerkte. „Rrrr ...“, er schmiegte seinen biegsamen Körper mitsamt Auto schwungvoll in eine Kurve und blinzelte dabei mit schief gelegtem Kopf in Emmas Richtung. Seine großen braunen Kinderaugen strahlten. „Von Papa!“, triumphierend schwenkte er das Auto durch die Luft. Natürlich! Ebenso wie all die Playmobilmännchen, Stofftiere und Big Jim-Figuren auf dem Holzregal an der Längsseite des Zimmers, das allmählich dem Lager eines Spielwarenhauses glich.
In den vergangenen Wochen hatte John jeden Tag irgendein neues Spielzeug mitgebracht. Gekauft von Emmas Geld. So erschlich er sich Cids Zuneigung, den er bis vor Kurzem noch nie gesehen hatte. Nach fünf Jahren stand John eines Tages vor Emmas Wohnungstür und drang gewaltsam wieder in ihr Leben ein. Wie sollte sie sich wehren? Die Polizei anrufen und verlangen, „bitte entfernen Sie meinen Mann von meinem Sofa, und lassen ihn nicht mehr in die Nähe unseres Kindes!“?
Emma sah keinen Ausweg, ging jeden Tag zur Arbeit in die Bücherei, während John sich
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