Schneekuesse
unübertrefflich war. David hielt ihr die Türen auf, rückte ihren Stuhl zurecht, er erzählte unterhaltsame Geschichten aus dem Showbiz, und er hatte Geld. David war ein Volltreffer, den sie festhalten musste. Diesmal würde sie schlau sein und die Initiative ergreifen. Jetzt gleich!
Jill nahm ein Taxi zu Davids Appartement, momentan auch ihr Wohnsitz. Sekt, Blumen, Pralinen und Ähnliches konnte sie sich sparen. Davids Kühlschrank war immer mit Champagnerflaschen gefüllt, auf seiner Anrichte standen Süßigkeiten in Silberschalen, und aus Blumen machte er sich nichts.
Sie bezahlte das Taxi und fuhr mit dem Lift hinauf zu Davids Wohnung. In ihrem Bauch tobten sich Insekten, von denen sie nicht wusste, ob es Ameisen, Schmetterlinge oder Hornissen waren, in einem unsichtbaren Tanz aus.
Auf dem Flur vor Davids Wohnung herrschte schummriges Licht, weil eine Glühbirne durchgebrannt war. Jill prallte mit dem Knie frontal gegen irgendwelche Sachen, die vor Davids Tür auf dem Boden standen. Mechanisch rieb sie sich die schmerzende Stelle und erkannte die Umrisse von Koffern und Taschen. Ihre eigenen Sachen!
Fassungslos betastete Jill ihre Reisetasche, nur um etwas zu tun. Ihr Kopf war leergefegt, kein Raum mehr für vernünftige Gedanken. Die Insekten in ihrem Bauch vollführten einen Höllenspektakel, der eigentlich sämtliche Nachbarn aus ihren Appartements hätte locken müssen.
Jill sank auf ihren großen, braunen Koffer mit den abgewetzten Beschlägen. Neben ihr rutschte ein Zettel auf den dunkelroten Läufer. Sie hob ihn auf, faltete ihn auseinander, erkannte Davids Handschrift: „Liebe Jill, ich musste dringend nach L.A., keine Zeit mehr, mich zu verabschieden. Sounders hat mich angerufen. Es tut mir leid, dass es nicht geklappt hat. Ich bleibe längere Zeit in L.A. Viel Glück für dich. David.“ Nicht einmal mit der Schrift hatte er sich Mühe gegeben, sondern die Worte wie Notizen für einen banalen Einkaufszettel auf das Papier geschmiert.
Jill las den Wisch wieder und wieder, als wolle sie ihn auswendig lernen. Sie konnte es nicht glauben. Er hatte sie wie einen räudigen Köter vor die Tür gesetzt!
Die Insekten verstummten. Erstarrt hockte sie auf ihrem Koffer. Der kalte Schweiß auf ihrer Haut schien sich in Eis verwandelt zu haben, das an dem armseligen Koffer festfror.
Eine Frau im Chanelkostüm kam den Flur entlang. Sie redete halblaut mit dem fetten Mops, den sie an der Leine führte. „Der Service wird immer asozialer“, schimpfte sie angesichts der durchgebrannten Glühbirne, dann stolperte sie über Jills Gepäck. „Oh mein Gott!“, kreischte sie erschrocken, als sie Jill wahrnahm. Kopfschüttelnd zerrte sie ihren neugierig schnüffelnden Mops weg und hastete in Richtung Fahrstuhl.
Emma
Innerhalb einer Stunde verlor Emma alles, was ihrem Leben einen Sinn gab. Es begann damit, dass sie vergessen wollte. Abends, wenn Cid im Bett lag und John in der Kneipe oder bei irgendeiner Schlampe herumhing, schenkte sie sich etwas ein. Künstliche Wärme und etwas Vergessen. Auch während der Arbeit in der Bücherei half ein Schluck zwischendurch, um nicht daran zu denken, was sich in ihrer Wohnung abspielte. Emma legte einen kleinen Vorrat im Regal hinter einigen uralten Wälzern an, die, solange sie hier arbeitete, noch nie jemand ausgeliehen hatte.
Ein Geschichtsprofessor mit Abneigung gegen Brandy ließ sie auffliegen. Er zog so schwungvoll eines der Bücher heraus, dass die dahinter versteckte Flasche gleich mit ans Tageslicht kam und den Professor von oben bis unten mit Brandy bespritzte.
Der Verdacht fiel sofort auf Emma. Die Schwarze war stets die erste Sünderin. Sie erhielt eine Abmahnung und die Auflage, regelmäßig an Sitzungen der Anonymen Alkoholiker teilzunehmen.
Mit Emmas bürgerlicher Existenz ging es rapide bergab, als eine der Sitzungen ausfiel und sie früher als erwartet nach Hause kam. Dort wälzte sich John in diesem Moment mit einer fremden Frau in ihrem Messingbett mit den kupferfarbenen Delphinköpfen herum, auf das sie so lange gespart hatte.
Emma prallte zurück und raste ins Kinderzimmer, aber Cid war nicht da. Sie kehrte um ins Schlafzimmer und schrie: „Wo ist Cid?“
Johns hochroter Kopf, nicht vor Scham, sondern vor Anstrengung so gut durchblutet, tauchte hinter dem Rücken der fremden Frau auf, die sich krampfhaft ein Kissen vor den Busen hielt: „In seinem Zimmer.“
Im selben Moment entdeckte Emma Warwuschel, Cids geliebte Stoffente.
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