Schneekuesse
herzensguter Schwager Thilo ihre Launen ertrug. Ich jedenfalls hatte von klein auf mein eigenes ‚Anti-Sophie-Programm‘. Jene von Sophie gehütete Schlafpuppe beispielsweise ließ ich als Fünfjährige vom großen Bruder eines Nachbarjungen kahl rasieren und schmierte sie dann eigenhändig mit schwarzer Schuhcreme ein. Zwar war Sophie mit 16 schon aus dem Puppenalter heraus, trotzdem regte sie sich mächtig auf, weil ihre Kinder die Puppe erben sollten. Heute, 20 Jahre später, hatte Sophie noch keinen Nachwuchs in die Welt gesetzt, besaß aber das Sorgerecht für unsere kleine Schwester Vicky. Und die spielte, genau wie ich in ihrem Alter, lieber Fußball als mit Puppen.
Sophies Absätze klapperten die schweren Steinstufen hinunter. ‚Klack-klack‘ hallte es. Ihr blonder, symmetrischer Pagenkopf wippte, ihre eierschalenfarbenen Hüften schwangen. Der Jil-Sander-Duft schwebte hinter ihr her. Das hanseatische Treppenhaus mit Stuckverzierungen und großzügigen Glastüren auf jeder Etage, an denen imposante Namensschilder diverse Anwaltskanzleien ankündigten, gab einen trefflichen Rahmen für sie ab.
Es roch intensiv nach Putzmitteln. Ein Mann im grauen Anzug wartete vor dem Fahrstuhl. Höflich grüßte er. Sicher hielt er Sophie für eine erfolgreiche Anwältin und mich für ihre missratene Mandantin, die sie aus irgendeinem Sumpf rettete.
Ich hätte den Fahrstuhl genommen, aber Sophie wollte vermutlich in den fünf Stockwerken ihre leichten Fettpölsterchen am Bauch abtrainieren, die sich vorsichtig in dem schmal geschnittenen Kostüm abzeichneten. Die Konsequenzen des guten Lebens! , dachte ich boshaft. Schon als wir Kinder waren, musste ich den Müll runterbringen, während Sophie Mutters Saucen abschmecken durfte.
Als hätte Sophie meine Gedanken gelesen, drehte sie sich plötzlich um. „Du brauchst gar nicht so ein Gesicht zu ziehen! Schließlich bist du mit Tante Carlotta nicht mal blutsverwandt! Außerdem habe ich Verantwortung.“ Ihre gute Laune verbot ihr den sonst üblichen Verweis darauf, wie teuer der Unterhalt für Vicky sei und wie eine rotzfreche Elfjährige ihre Nerven strapaziere.
Sophie stieß einen undamenhaften Seufzer aus, als wir unten ankamen. Die vielen Treppen forderten ihren Tribut, aber die Erbschaft weckte ihre großzügige Ader. „Gehst du auf einen Kaffee mit? Ich lade dich ein.“
„Muss los! Bin schon zu spät dran!“ Ich stemmte die wuchtige Marmortür im Portal auf und atmete tief durch. Es war wie der Eintritt aus einer kühlen Käseglocke in einen belebten Bienenstock. Um mich herum schwirrte und summte es. Passanten hasteten mit schweren Einkaufstüten vorbei.
Trotz der winterlichen Temperaturen kam es mir draußen wärmer vor. Die hohen Gebäude rahmten die Mönckebergstraße ein und schirmten sie vor eisigen Winden ab. Einen Straßenmusikanten hatte der Sonnenschein nach draußen gelockt. Er fiedelte mitten auf dem Gehsteig herzzerreißend auf einer alten Geige. In der Ferne ertönte ein Martinshorn. Ein Kind sprang in eine Schneematschpfütze im Rinnstein und wurde von seiner Mutter schimpfend herausgeholt. Ein Mann lief auf und ab, um den Leuten mit volltönender Stimme „die Botschaft von Jesus, dem Herrn“ zu verkünden. In einer Nische neben dem Hauseingang wärmte sich ein Bettler die Hände im zottigen Fell seines Schäferhundes auf einer zerschlissenen Wolldecke und murmelte monoton: „Bitteschön! Bitteschön!“ Von der Imbissbude neben dem Kaufhaus auf der anderen Straßenseite zog ein verlockender Bratwurstgeruch herüber.
Ich legte eine Münze in den Hut des Bettlers.
„Vergelt’s Gott, junge Frau“, bedankte er sich im gleichen monotonen Singsang.
Sophie schüttelte den Kopf. Missbilligend zog sie die Schultern hoch. Ihre Körpersprache drückte aus, was sie dachte: Du wirst es nie zu etwas bringen!
Ein langer Schatten fiel vor uns auf das Pflaster, rasch rief ich Sophie zu: „Tschüss, gib Vic einen Kuss von mir!“
Vor dem Schaufenster nebenan hatte ein großer Mann gewartet. Er trat jetzt ins Licht der Februarsonne, die sich auf seinen glänzenden, schwarzen Haaren spiegelte. Der dunkle Mantel streckte die schlanke Gestalt, sodass er wie eine Insel zwischen all den eiligen Leuten auftauchte. Freudige Erwartung lag auf seinen glatt rasierten, olivfarbenen Gesichtszügen, die so perfekt das Bild des Latin Lovers mimten. Ehe ich etwas sagen konnte, presste Anthony mir einen feurigen Kuss auf die Lippen und saugte sich, ungeachtet der
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