Schneemann

Stock zog er sich die Uniform an, die an der Garderobe hing und seit Jack Halvorsens Beerdigung nicht mehr getragen worden war. Er betrachtete sein Spiegelbild im Fenster. Die Jacke passte nicht mehr.
    Gunnar Hagen war geweckt worden und sofort ins Büro gekommen. Nun saß er an seinem Schreibtisch und hörte Harry zu, der ihm Bericht erstattete. Was er hörte, war derart außergewöhnlich, dass er gar nicht dazu kam, sich über die zerknitterte Uniform aufzuregen.
    “Der Schneemann ist Katrine Bratt”, wiederholte Hagen langsam, als würde die Sache verständlicher, wenn er sie laut aussprach.
    Harry nickte.
    “Und du glaubst Stop?” “Ja”, erwiderte Harry.
    “Gibt es irgendjemanden, der seine Geschichte bestätigen kann?” “Die sind alle tot. Birte, Sylvia, Idar Vetlesen. Er hätte der Schneemann sein können, genau das war es, was Katrine herausfinden wollte.”
    “Katrine? Aber du hast doch behauptet, sie sei der Schneemann? Warum sollte sie … “
    “Ich habe gesagt, dass sie herausfinden wollte, ob er der Schneemann sein könnte. Sie wollte sich nämlich einen Sündenbock suchen. Als Stop einräumte, kein Alibi für den Zeitpunkt der Morde zu haben, antwortete sie >gut< und teilte ihm mit, er sei soeben zum Schneemann gekürt worden. Und dann hat sie angefangen ihn zu würgen. Bis sie das Knallen hörte, als ich mit dem Auto in die Tür gefahren bin. Da wusste sie, dass wir im Anmarsch sind, und ist abgehauen. Bestimmt hatte sie vor, ihn in der Wohnung aufzuhängen, damit es für uns wie Selbstmord aussieht. Wir hätten uns sicher damit zufriedengegeben, in Arve Stop den Schuldigen gefunden zu haben. So ist sie auch vorgegangen, als sie Idar Vetlesen umgebracht hat. Und als sie versucht hat, Filip Becker während der Festnahme zu erschießen.”
    “Was? Sie hat versucht … “
    “Sie hatte den Revolver auf ihn gerichtet und den Hahn gespannt. Ich habe gehört, wie sich der Hahn wieder gesenkt hat, als ich ihr in die Schusslinie trat.”
    Gunnar Hagen schloss die Augen und rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. “Bis jetzt sind das aber alles nur Spekulationen, Harry.”
    “Und dann war da noch dieser Brief”, fügte Harry hinzu. “Der Brief?”
    “Vom Schneemann. Ich habe den Text mit Datum zu Hause bei ihr auf dem pc gefunden, geschrieben, bevor irgendjemand von uns von diesem Brief wusste. Und neben dem Drucker lag auch noch das richtige Papier.”
    “Mein Gott!” Hagen stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte den Kopf in die Hände. “Wir haben die Frau hier eingestellt! Weißt du, was das bedeutet, Harry?”
    “Tja. Der Skandal des Jahres. Misstrauen gegen die gesamte Polizei. Da rollen Köpfe auf den obersten Etagen.”
    Hagen öffnete die Finger einen Spaltbreit und sah Harry an. “Danke für die präzise Prognose.”
    “Gern geschehen.”
    “Ich werde den Kriminalchef und den Polizeipräsidenten herbitten. Bis dahin haltet ihr dicht, Bjorn und du, und zwar vollkommen dicht. Was ist mit Arve Stop, wird er damit an die Öffentlichkeit gehen? “
    “Wohl kaum, Chef. ” Harry lächelte schief. “Der ist am Ende. ” ” Wie - am Ende? “
    “Am Ende mit seiner Integrität. “
    Es war inzwischen zehn Uhr, und von seinem Bürofenster aus sah Harry das blasse, fast zögerliche Tageslicht über die Hausdächer des sonntäglich stillen Stadtteils Gronland kriechen. Es waren mehr als sechs Stunden vergangen, seit Katrine Bratt aus Stops Wohnung verschwunden war, doch bisher war die Fahndung ergebnislos verlaufen. Natürlich konnte sie noch immer in Oslo sein, aber sollte sie ihren Rückzug vorbereitet haben, war sie schon über alle Berge. Harry zweifelte weder, dass sie sich vorbereitet hatte, noch, dass Katrine der Schneemann war
    Zum einen wegen der Beweise; des Briefs und der Mordversuche. Zum anderen, weil mit Katrine Bratt auch seine Befürchtungen bestätigt wurden: dass jemand in sein Leben eingedrungen war und ihn aus nächster Nähe beobachtet hatte. Die ganzen Zeitungsausschnitte an der Wand, mit den Berichten über seine Fälle. Sie hatte versucht, ihn so gut kennenzulemen, dass sie seinen nächsten Zug vorhersehen und ihn zu einem Teil ihres Spiels machen konnte. Und jetzt war sie ein Virus in seinem Blut, ein Spion in seinem Kopf.
    Er hörte jemanden eintreten, drehte sich aber nicht um.
    ” Wir haben ihr Handy geortet”, hörte er Skarres Stimme. “Sie hat sich nach Schweden abgesetzt.”
    “Ach ja?”
    “Die Zentrale von Telenor hat uns