Schneemann
Objekt bewegt? Over.”
Er ließ den Knopf los, und das Gerät begann leise zu knistern.
Dann meldete sich eine Stimme.
” Er sitzt noch immer im Sessel.”
“Verstanden. Wir gehen jetzt rein. Over und aus.”
Der eine Delta - Beamte nickte und zog sein Brecheisen, während der andere einen Schritt zurücktrat und sich bereit machte.
Harry hatte diese Technik schon einmal bewundern können:
Der eine hebelte die Tür auf, woraufhin der andere sie ohne großen Kraftaufwand eintrat. Das Brecheisen allein hätte auch schon gereicht, aber der Effekt aus Lärm, Kraft und Geschwindigkeit führte dazu, dass das Zielobjekt in neun von zehn Fällen wie gelähmt stehen oder liegen blieb.
Trotzdem hob Harry abwehrend die Hände, drückte nur die Klinke herunter und schob die Tür auf.
Mathias hatte nicht gelogen: Sie war unverschlossen und glitt lautlos auf. Harry deutete sich auf die Brust, um den anderen zu verstehen zu geben, dass er selbst als Erster eintreten wollte.
Die Wohnung war nicht so minimalistisch eingerichtet, wie Harry erwartet hatte.
Besser gesagt, sie war gar nicht eingerichtet, sondern vollkommen leer: keine Kleider im Flur, keine Möbel, keine Bilder. Nur nackte Wände, die nach einer neuen Tapete oder einem Eimer Farbe schrien. Es sah aus, als würde hier schon lange niemand mehr wohnen.
Die Tür zum Wohnzimmer stand einen Spaltbreit offen, so dass Harry die Armlehne des Sessels und die Hand erkennen konnte. Eine schmale Hand mit einer Uhr. Er hielt die Luft an, machte zwei ausladende Schritte, streckte den Revolver vor sich und schob die Wohnzimmertür mit dem Fuß auf.
Er spürte, wie die beiden anderen, die sich am Rand seines Blickfeldes bewegt hatten, erstarrten.
Einer von ihnen flüsterte kaum hörbar: “Mein Gott … “
Ein großer Kronleuchter hing über dem Sessel und warf sein Licht auf die Person, die dort saß und sie ansah. Am Hals hatte sie blaue Würgernale, ihr Gesicht war blass und schön, die Haare schwarz und das Kleid himmelblau mit kleinen weißen Blumen. Das gleiche Kleid wie auf dem Kalenderbild in Harrys Küche. Er spürte, wie es ihm das Herz zerriss, während der Rest seines Körpers zu Stein erstarrte. Er versuchte, sich zu bewegen, doch es gelang ihm nicht, sich von ihrem gebrochenen Blick loszureißen. Diese gebrochenen, vorwurfsvollen Augen, die ihn anklagten, nichts unternommen zu haben, nicht die richtigen Gedanken gedacht zu haben, dem Spiel kein Ende bereitet und sie nicht gerettet zu haben.
Sie war genauso weiß wie damals die Leiche seiner Mutter. “Durchsuchen Sie auch noch die anderen Zimmer”, befahl Harry mit belegter Stimme und ließ den Revolver sinken.
Taumelnd trat er einen Schritt vor und legte die Finger auf ihr Handgelenk. Es war eiskalt und leblos, wie Marmor. Dennoch konnte er ein Ticken spüren, einen schwachen Puls. Einen absurden Augenblick lang dachte er, man hätte sie bloß wie eine Tote geschminkt. Dann senkte er den Blick und erkannte, dass es nur ihre tickende Uhr war.
“Die Wohnung ist leer”, hörte er einen der Beamten hinter sich. Gefolgt von einem Räuspern. “Wissen Sie, wer das ist? “
“Ja”, bestätigte Harry und fuhr mit dem Finger über das Glas der Armbanduhr, die er noch vor wenigen Stunden in der Hand gehabt hatte. Die Uhr, die in seinem Schlafzimmer liegen geblieben war. Und die er im Nistkasten deponiert hatte, weil Rakels Freund sie an diesem Abend ausführen wollte. Um zu feiern, dass sie zwei von jetzt ab eins waren.
Harry sah ihren Blick, die vorwurfsvollen, anklagenden Augen. Ja, dachte er, schuldig in allen Punkten.
Skarre war in die Wohnung gekommen und starrte über Harrys Schulter auf die tote Frau im Wohnzimmersessel. Neben ihm standen die bei den Delta-Beamten.
“Erwürgt?”, erkundigte er sich.
Harry machte keine Anstalten zu antworten oder sich zu bewegen. Der eine Träger des hellblauen Kleides war ihr von der Schulter gerutscht.
“Ungewöhnlich, so ein Sommerkleid im Dezember”, bemerkte Skarre zu sich selbst.
“Das macht sie immer so”, erwiderte Harry mit einer Stimme, die von weit weg zu kommen schien. “Wer?”, hakte Skarre nach. “Rakel.”
Der Beamte zuckte zusammen. Er kannte Harrys Ex aus der Zeit, als sie noch bei der Polizei gearbeitet hatte. “Ist … ist das … Rakel? Aber … ?”
“Das ist ihr Kleid”, nickte Harry. “Und ihre Uhr. Er hat sie angezogen wie Rakel. Aber die Frau, die hier sitzt, ist Birte Becker.” Skarre starrte schweigend auf die Tote.
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