Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
ob alle richtig verriegelt waren. Ihr Vater hatte das Haus kurz nach dem Krieg gebaut und alle Fenster sehr hoch anbringen und vergittern lassen. Sie wusste, dass das mit seinen Kriegserlebnissen zu tun hatte, mit dem Russen, der sich bei Leningrad in den Bunker geschlichen und all seine schlafenden Kameraden erschossen hatte. Nur ihr Vater hatte überlebt, denn er hatte so dicht bei der Tür gelegen und so erschöpft geschlafen, dass er nur verwundert auf die leeren Patronenhülsen starren konnte, als er vom Alarm geweckt wurde. “Das war die letzte Nacht meines Lebens, in der ich gut geschlafen habe”, behauptete er. Trotzdem hatte sie diese Gitter immer gehasst. Bis heute.
    “Kann ich nicht auf mein Zimmer gehen?”, bat Oleg und trat gegen das Bein des großen Küchentisches. “Nein”, verbot Rakel. “Du bleibst hier.” “Was hat Mathias denn gemacht?”
    “Harry wird uns das erklären, wenn er da ist. Bist du sicher, dass du die Kette auch richtig festgemacht hast?”
    “Ja, Mama. Ich wünschte, Papa wäre hier.”
    “Papa?” Dieses Wort hatte sie ihn noch nie benutzen hören. Abgesehen von den Momenten, in denen er damit Harry gemeint hatte, aber das lag Jahre zurück. “Meinst du deinen Vater in Russland?” “Das ist nicht mein Papa.”
    Die Gewissheit, mit der er das sagte, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.
    “Die Kellertür! “, rief sie plötzlich erschrocken. “Was?”
    “Mathias hat auch einen Schlüssel für die Kellertür! Was sollen wir tun?”
    “Kein Problem”, meinte Oleg und trank sein Wasser aus. “Du musst einen der Kellerstühle unter der Klinke verkeilen. Die passen genau in der Höhe, dann hat er keine Chance ins Haus zu kommen.”
    “Hast du das schon mal ausprobiert?”, fragte sie überrascht. “Harry hat das mal gemacht, als wir gespielt haben.”
    “Bleib hier sitzen”, befahl sie und ging über den Flur zur Kellertreppe. “Warte.”
    Sie blieb stehen.
    “Ich hab genau zugesehen, wie er das damals gemacht hat”, erklärte Oleg und stand auf. “Bleib du hier, Mama.”
    Sie sah ihn an. Mein Gott, wie er in diesem Jahr gewachsen war, er war fast schon größer als sie. In seinem dunklen Blick war bald auch der letzte Rest von Kindlichkeit einem Ausdruck gewichen, der im Moment wohl noch hauptsächlich jugendlichem Trotz zuzuschreiben war, in dem sie allerdings schon die Entschlossenheit des Erwachsenen erkennen konnte.
    Sie zögerte.
    “Lass mich das machen”, bat er.
    Seine Stimme klang flehend. Und sie spürte, wie viel ihm diese Sache bedeutete. Es war wie ein Aufbegehren gegen seine kindliche Angst. Ein Initiationsritus. Ein Versuch, wie sein Vater zu sein, wen auch immer er dafür hielt.
    “Aber beeil dich”, flüsterte sie. Oleg rannte zur Kellertreppe.
    Sie stellte sich ans Fenster und starrte hinaus. Horchte nach einem Auto in der Einfahrt und hoffte, dass Harry als Erster eintreffen würde. Sie wunderte sich, wie still es war. Und hatte keine Ahnung, woher der nächste Gedanke kam: Wie viel stiller es wohl noch werden würde?
    Doch da drang plötzlich ein Geräusch an ihr Ohr. Ein ganz leises. Erst dachte sie, es käme von draußen. Dann hörte sie es direkt hinter sich. Sie fuhr herum, konnte aber nichts entdecken, nur die leere Küche. Doch da - da war es wieder! Wie das schwere Ticken einer Uhr. Oder ein Finger, der auf eine Tischplatte trommelt. Der Tisch. Sie riss die Augen auf. Daher kam das Geräusch. Und dann sah sie es. Ein Tropfen war auf die Tischplatte geklatscht. Langsam hob sie den Blick. Mitten auf der weißen Zimmerdecke hatte sich ein dunklerer Kreis gebildet, in dessen Mitte ein blanker Tropfen hing. Als er herunterfiel, landete er leise platschend auf der Tischplatte. Rakel sah es geschehen, zuckte bei dem Geräusch aber trotzdem zusammen wie bei einer unerwarteten Ohrfeige.
    Mein Gott, das musste aus dem Badezimmer kommen! Konnte sie wirklich vergessen haben, die Dusche zuzudrehen? Aber das musste sie dann bereits am Morgen vergessen haben, denn nach der Arbeit hatte sie gleich mit dem Kochen angefangen und war gar nicht mehr oben gewesen. Logisch, so etwas musste natürlich ausgerechnet jetzt passieren!
    Hastig lief sie die Treppe hoch zum Badezimmer. Allerdings konnte sie kein Wasser laufen hören. Sie öffnete die Tür. Trockener Boden. Kein Wasser. Sie machte die Tür wieder zu und blieb ein paar Sekunden vor dem Badezimmer stehen. Dann glitt ihr Blick zur Schlafzimmertür direkt nebenan. Langsam setzte sie

Weitere Kostenlose Bücher