Schneemann
einen Fuß vor den anderen. Legte die Hand auf die Klinke. Zögerte. Lauschte noch einmal, ob sie nicht ein Auto höre. Dann öffnete sie die Tür. Sie stand da und starrte ins Zimmer. Am liebsten hätte sie losgeschrien, doch sie wusste instinktiv, dass sie diesem Impuls nicht nachgeben durfte. Sie musste still sein, ganz still.
“Scheiße, Scheiße! “, brüllte Harry und hämmerte mit der Faust auf das Armaturenbrett, dass es nur so bebte. “Was geht denn hier ab? ” Vor dem Tunnel stand der Verkehr vollkommen still. Und das schon seit zwei langen Minuten.
Die Antwort kam noch in der gleichen Sekunde über den Polizeifunk: “Kollision auf Ring 3 bei der Ausfahrt aus der linken Tunnelröhre bei Täsen. Keine Verletzten. Der Abschleppwagen ist schon unterwegs. “
Einer Eingebung folgend, riss Harry das Mikro an sich: “Wissen Sie, wer da zusammengestoßen ist?”
“Zwei PKWs, beide mit Sommerreifen”, kam es ebenso lakonisch wie nasal aus dem Funkgerät.
“Wenn’s im November schneit, gibt’s immer Chaos”, kommentierte der Beamte vom Rücksitz.
Harry antwortete nicht, sondern trommelte nur mit den Fingern aufs Armaturenbrett. Er fragte sich, welche Alternativen er hatte. Vor und hinter ihnen war eine Wand aus Autos, da halfen auch keine Blaulichter oder Sirenen.
Er konnte höchstens aus dem Wagen springen, zum Ende des Tunnels rennen und sich einen anderen Streifenwagen dorthin bestellen, aber das waren fast zwei Kilometer.
Es war mucksmäuschenstill im Wagen, nur die im Leerlauf brummenden Motoren waren zu hören. Der Lieferwagen vor ihnen rollte einen Meter weiter, und der Beamte folgte seinem Vorbild und bremste erst, als er wieder Stoßstange an Stoßstange mit dem anderen stand. Er fürchtete wohl, aggressiv fahren zu müssen, um den Hauptkommissar von einer weiteren Explosion abzuhalten. Wegen der plötzlichen Bremsung stießen die zwei Metallnixen munter klirrend aneinander.
Harry dachte wieder an Jonas. Warum fiel ihm der Junge immer wieder ein? Warum hatte er an Jonas denken müssen, als er mit Mathias telefonierte? Es musste mit diesem Geräusch zu tun haben. Diesem Geräusch im Hintergrund.
Noch einmal starrte Harry die beiden Tänzerinnen am Rückspiegel an. Und dann dämmerte es ihm.
Jetzt wusste er, warum er an Jonas hatte denken müssen. Jetzt wusste er, woher dieses Geräusch kam, und dass er keine Sekunde mehr zu verlieren hatte. Oder - und diesen Gedanken versuchte er zu verdrängen - dass sie es vielleicht auch überhaupt nicht mehr eilig hatten. Dass es längst zu spät war.
Ohne nach rechts oder links zu blicken, ging Oleg rasch durch den dunklen Kellerflur, denn er wusste, dass die weißen Salzausdünstungen bleiche Gespenster an die Kellerwände zeichneten. Er versuchte, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren und an nichts anderes zu denken. Keine falschen Gedanken zuzulassen. Schließlich hatte Harry immer gesagt, man könne die einzigen Monster, die es gab - nämlich die in seinem eigenen Kopf -, überwinden. Aber das wollte trainiert sein. Man musste sich ihnen stellen und so oft es ging mit ihnen kämpfen. Kleine Gefechte, die man gewinnen konnte, bevor man nach Hause ging, seine Wunden verpflasterte und aufs Neue in den Kampf zog. Und das hatte er auch getan, er war schon oft allein im Keller gewesen. Und er musste ja auch häufig hier herunterkommen, schließlich sollten seine Schlittschuhe im Kalten liegen.
Er packte den Gartenstuhl und zog ihn lärmend hinter sich her, um die Stille zu vertreiben. Erst überprüfte er, ob die Kellertür auch wirklich abgeschlossen war, dann schob er den Stuhl unter die Klinke und versicherte sich, dass sie auch blockiert war. So. Plötzlich erstarrte er. Hatte er da nicht etwas gehört? Er blickte zu dem kleinen Glasfenster in der Kellertür hoch und konnte seine Ängste mit einem Mal nicht mehr länger zurückhalten, jetzt stürmten sie auf ihn ein. Da draußen stand jemand. Er wollte wieder nach oben rennen, zwang sich aber, stehen zu bleiben. Bekämpfte seine ängstlichen Gedanken mit anderen Gedanken. Ich bin drinnen, dachte er. Ich bin hier unten genauso sicher wie da oben. Er hielt die Luft an und spürte sein Herz in der Brust schlagen wie eine Basstrommel. Dann beugte er sich vor und äugte durch das kleine Fenster. Er sah das Spiegelbild seines eigenen Gesichts, doch darüber erkannte er noch ein anderes Gesicht, eine verzerrte Fratze, die nicht ihm gehörte. Und er sah Hände, Monsterhände, die hinter ihm in die
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