Schneemann
die Tür auf, ein blasses, ängstliches Frauengesicht kam zum Vorschein und sah ihn fragend an.
“Onny Hetland?”, fragte Rafto und hielt ihr seine Marke hin. “Es geht um Ihre Freundin, Laila Aasen.”
Die winzige Wohnung hatte eine merkwürdige Aufteilung, bei der das Bad an die Küche grenzte, die wiederum zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer lag. Onny Hetland hatte es irgendwie geschafft, ein Sofa und einen Sessel mit grün-orangem Bezug zwischen die burgunderfarben gemusterten Tapeten zu quetschen, und auf den paar Quadratmetern, die noch frei waren, stapelten sich Zeitschriften, Bücher und CDs. Rafto stieg über eine umgestürzte Wasserschale und eine Katze, um zum Sofa zu kommen. Onny Hetland setzte sich auf den Sessel und fingerte an ihrer Halskette herum. Der grüne Stein, den sie als Anhänger trug, hatte einen schwarzen Riss. Vielleicht ein Materialfehler. Vielleicht Absicht.
Onny Hetland hatte am frühen Morgen durch Lailas Partner Bastian vom Tod ihrer Freundin erfahren. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich trotzdem Entsetzen, als Rafto schonungslos die Details vor ihr ausbreitete.
“Wie schrecklich”, flüsterte sie. “Davon hat Bastian nichts erzählt.”
“Wir wollten damit nicht an die Öffentlichkeit gehen”, erklärte Rafto. “Bastian hat mir gesagt, Sie seien Lailas beste Freundin?” Onny nickte.
“Wissen Sie, was Laila oben auf dem Ulriken wollte? Ihr Lebensgefährte hatte nämlich keine Ahnung. Er war gestern mit den Kindern bei seiner Mutter in Flom.”
Onny schüttelte den Kopf. Etwas zu entschlossen. Ein Kopfschütteln, das keinen Zweifel aufkommen lassen sollte. Aber nicht die Bewegung als solche war das Problem, sondern die Hundertstelsekunde Verzögerung, mit der sie eingeleitet worden war. Gert Rafto brauchte nicht mehr als dieses Zögern:
“Es geht hier um Mord, Fräulein Hetland. Ich hoffe, Sie erkennen den Ernst der Lage und sind sich darüber im Klaren, welches Risiko Sie eingehen, wenn Sie mir nicht alles sagen, was Sie wissen.” Verwirrt starrte sie den Polizisten mit dem Bulldoggengesicht an, der seine Beute schon witterte:
“Wenn Sie auf Lailas Familie Rücksicht nehmen wollen, verstehen Sie die Sache falsch. Es wird so oder so herauskommen.”
Sie schluckte. Onny Hetland sah noch immer genauso ängstlich aus wie in dem Moment, in dem sie die Tür geöffnet hatte. Dann gab er ihr den letzten, entscheidenden Stoß, eine eigentlich lächerliche Drohung, die jedoch bei Schuldigen wie Unschuldigen immer wieder durchschlagende Wirkung zeigte:
“Sie können es mir jetzt gleich erzählen oder zum Verhör mit aufs Präsidium kommen.”
Die Tränen kullerten aus ihren Augen, und ihre kehlige Stimme war kaum hörbar, als sie sagte:
“Sie wollte da jemanden treffen.” “Wen?”
Onny Hetland holte zitternd Luft. “Laila hat mir nur seinen Vornamen gesagt und was er arbeitet. Und dass es ein Geheimnis ist, von dem niemand erfahren darf. Vor allem nicht Bastian.” Rafto senkte die Augen auf seinen Notizbock, um seinen Eifer
zu verbergen. “Und der Vorname und der Beruf sind?”
Er schrieb Onnys Angaben auf. Sah auf seinen Block. Ein ziemlich häufiger Name. Aber da Bergen eine relativ kleine Stadt war, hielt er diese Information für ausreichend. Er spürte mit seinem ganzen Ich, dass er auf der richtigen Spur war. Und mit diesem Ich meinte Rafto dreißig Jahre Polizeierfahrung und eine Menschenkenntnis, die auf genereller Menschenverachtung beruhte.
” Eines müssen Sie mir noch versprechen”, verlangte Rafto. “Sie dürfen das, was Sie mir jetzt gerade gesagt haben, erst einmal niemandem sonst erzählen. Auch keinem der Familie. Und erst recht nicht der Presse. Nicht einmal anderen Polizisten. Haben Sie das verstanden? “
“Auch nicht … der Polizei?”
“Auf gar keinen Fall. Ich leite die Ermittlungen und muss genau wissen, wer welche Informationen hat. Bis Sie etwas anderes von mir hören, wissen Sie nichts.”
Endlich, dachte Rafto, als er wieder draußen auf der Treppe vor dem Haus stand. Als etwas weiter oberhalb ein Fenster geöffnet wurde und Glas aufblitzte, hatte er erneut das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber wenn schon? Die Revanche war ihm sicher. Gert Rafto knöpfte seinen Mantel zu und spürte den schauderhaften Regen kaum, als er in stillem Triumph über die rutschigen Straßen in Richtung Zentrum lief.
Es war fünf Uhr nachmittags, und Bergen ruhte noch immer unter einer dicken Wolkendecke, aus der unaufhörlich Regen
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