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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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zum Kriminaloberkommissar zitiert, vor dem er eine Erklärung abgeben musste. Man legte ihm nahe, zu schweigen und seine Finger bei sich zu behalten. Das war alles. Aber danach begannen Gerüchte zu kursieren, von denen bald auch die Presse Wind bekam. Und als die Polizei ein paar Jahre später wegen Gewalt im Dienst angeklagt wurde, überraschte es niemanden mehr, dass man recht bald einen Mann fand, gegen den konkrete Beweise vorlagen. Einen Mann, wie geschaffen für die Schlagzeilen.
    Gert Rafto war schuldig im Sinne der Anklage, daran zweifelte keiner. Andererseits wussten aber auch alle, dass der Hauptkommissar als Sündenbock einer Kultur herhalten musste, die schon lange in der ganzen Behörde Einzug gehalten hatte. Gegen ihn sprachen einige von ihm selbst unterzeichnete Berichte über Festnahmen, bei denen die Verdächtigen - die meisten Kinderschänder und Drogenhändler - auf der alten Treppe, die zu den Zellen hinunterführte, gestolpert waren und sich hier und da Blutergüsse zugezogen hatten.
    Die Zeitungen kannten keine Gnade und verpassten ihm einen Spitznamen - Eisen-Rafto -, der nicht gerade originell, aber recht passend war. Doch damit nicht genug: Die Journalisten gruben auch noch ein paar alte Feinde auf beiden Seiten des Gesetzes aus, die die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, ihm eins auszuwischen. Als seine Tochter eines Tages weinend von der Schule nach Hause kam und berichtete, sie würde” Eisentreppe” genannt, reichte es seiner Frau endgültig. Er könne doch wohl nicht erwarten, dass sie einfach still zusah, warf sie ihm an den Kopf, wie er die ganze Familie in den Dreck zog. Als er daraufhin wie so oft zuvor die Beherrschung verlor, verließ sie mit ihrer Tochter das Haus. Diesmal für immer.
    Es war eine harte Zeit gewesen, doch er hatte nie vergessen, wer er war. Eisen-Rafto. Als seine Quarantäne vorüber war, setzte er alles daran, die verlorenen Chancen wieder wettzumachen, und arbeitete Tag und Nacht. Aber niemand war bereit zu vergessen, die Wunden saßen zu tief, und er spürte den Widerstand. Niemand wollte, dass er zurück auf die Titelseiten fand und sie an all das erinnerte, was sie so verzweifelt hinter sich zu lassen versuchten. All die Bilder zerschundener Menschen in Handschellen. Trotzdem wollte er es ihnen beweisen. Ihnen zeigen, dass sich ein Gert Rafto nicht für immer begraben ließ und dass die Stadt dort unten ihm gehörte und nicht den Soziologen und Memmen mit ihren Glacehandschuhen, die brav in ihren Büros hockten und Kommunalpolitikern und Journalisten bereitwillig in den Arsch krochen.
    “Mach ein paar Fotos und versuch die Tote so schnell wie möglich zu identifizieren”, wies er den Techniker mit der Kamera an. “Und wie soll das gehen?”
    Dieser Ton gefiel Rafto ganz und gar nicht. ” Irgendjemand hat diese Frau vermisst gemeldet oder wird es demnächst. Leg einfach los, fang an.”
    Rafto stieg auf den Gipfel und wandte sich von der Stadt ab. Vor ihm lag das, was man in Bergen einfach nur “Vidden” nannte - die Ebene. Sein Blick glitt über die Landschaft und blieb bei einer kleinen Anhöhe hängen, auf der ein Mensch zu stehen schien. Aber konnte das sein? Er stand vollkommen still. Oder war das nur ein Steinmännchen? Rafto kniff die Augen zusammen. Er war unzählige Male mit seiner Frau und seiner Tochter hier oben unterwegs gewesen, konnte sich aber nicht daran erinnern, dort drüben jemals etwas bemerkt zu haben. Er ging zurück zur Kabinenbahn und lieh sich von den Angestellten ein Fernglas. Fünfzehn Sekunden später stellte er fest, dass dort kein Steinmännchen stand, sondern bloß drei dicke Schneeklumpen, die jemand übereinandergestapelt hatte.
    Rafto mochte die Hanglage oberhalb von Bergen nicht. Und auch nicht die ach so pittoresken, schiefen, unisolierten Holzhäuschen mit ihren engen Treppen und Kellern, in denen es immer dunkel war. Trotzdem blätterte der trendbewusste Geldadel ohne mit der Wimper zu zucken Millionen für ein authentisches Bergener Haus hin. Das wurde dann so lange renoviert, bis auch der letzte Original-Holzsplitter entfernt war. Hier oben hörte man keine Kinder mehr über die Bürgersteige rennen. Die hohen Preise hatten die Familien mit Kindern längst in die Vorstädte auf der anderen Seite der Berge vertrieben. Jetzt herrschte hier eine Stille wie in einem verwaisten Büroviertel. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden, als er auf der Steintreppe stand und klingelte.
    Nach einer Weile ging

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