Schneemann
in die Arme.
Sie mochte sogar den Geruch seines Wollmantels. Der Stoff schmiegte sich herbstlich kühl an ihre Haut, doch sie spürte bereits die wohlige Wärme des Körpers dahinter.
“Was ist los?” Er verbarg sein Gesicht in ihren Haaren und lachte.
“Ich habe so auf dich gewartet”, flüsterte sie.
Sie schloss die Augen und hielt ihn eine ganze Weile fest. Schließlich blickte sie in sein lächelndes Gesicht. Er war ein hübscher Mann. Hübscher als Harry.
Er löste sich aus ihrer Umarmung, knöpfte den Mantel auf, hängte ihn an den Haken und ging in die Küche, um sich die Hände zu waschen. Das tat er immer, wenn er aus dem Anatomischen Institut kam, wo sie es in den Vorlesungen mit Leichen zu tun hatten. So wie Harry sich immer die Hände gewaschen hatte, wenn er direkt von einem Mordfall kam. Mathias holte den Kartoffeleimer aus dem Schrank unter dem Waschbecken, schüttete sie in das Becken und begann sie unter dem fließenden Wasser abzuschrubben: “Und wie war dein Tag, meine Liebe?”
Sie dachte, dass sie fast jeder andere sicher erst nach dem gestrigen Abend gefragt hätte, schließlich wusste er, dass sie sich mit Harry getroffen hatte. Und auch dafür mochte sie ihn. Sie erzählte und sah dabei aus dem Fenster. Ihr Blick glitt über die Fichten und die Stadt dort unten, deren Lichter bereits zu blinken begannen. Er war jetzt irgendwo dort unten. Auf der hoffnungslosen Jagd nach etwas, das er niemals finden würde, niemals. Er tat ihr leid. Nur dieses Mitleid war geblieben. Dabei hatte es am gestrigen Abend durchaus Momente gegeben, in denen sie still geworden waren und sich ihre Blicke ineinander verhakt hatten. Diese Augenblicke waren wie kleine elektrische Schläge gewesen, aber immer wieder rasch vergangen. Bis nichts mehr zu spüren war, nichts. Die Magie war verflogen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Nun stellte sie sich hinter Mathias, schlang die Arme um ihn und lehnte ihren Kopf an seinen breiten Rücken.
Sie spürte die Muskeln und Sehnen unter seinem Hemd arbeiten, während er die Kartoffeln schälte und in den Topf legte. “Wir könnten noch ein paar gebrauchen”, meinte er.
Sie bemerkte eine Bewegung an der Küchentür und drehte sich um.
Oleg stand da und sah sie an.
“Kannst du nicht noch ein paar Kartoffeln aus dem Keller holen? “, bat sie und sah Olegs dunkle Augen noch dunkler werden.
Mathias drehte sich um. Oleg rührte sich nicht vom Fleck. “Ich kann auch gehen”, bot Mathias an und nahm den leeren Eimer aus dem Schrank.
“Nein”, sagte Oleg und trat zwei Schritte vor. “lch gehe schon.” Er nahm Mathias den Eimer aus der Hand, drehte sich um und
verschwand durch die Tür.
“Was war das denn?”, fragte Mathias.
“Er hat bloß ein bisschen Angst im Dunkeln”, seufzte Rakel. “Das weiß ich schon, aber warum ist er trotzdem gegangen?” “Weil Harry gesagt hat, dass er das tun soll.”
“Was tun soll?”
Rakel schüttelte den Kopf. “Na genau das, wovor er Angst hat, obwohl er eigentlich keine haben will. Als Harry hier war, hat er Oleg ständig in den Keller geschickt.”
Mathias runzelte die Stirn.
Rakel lächelte traurig. “Harry ist nicht gerade ein Kinderpsychologe. Und Oleg hörte sowieso nicht mehr auf mich, wenn Harry vorher etwas gesagt hatte. Andererseits gibt es da unten ja wirklich keine Monster.”
Mathias schaltete den Herd ein und fragte leise: “Wie kannst du dir da so sicher sein?”
“Du?”, drohte Rakel lachend. “Hattest du etwa auch Angst im Dunkeln?”
“Was heißt hier hatte?”
Doch, sie mochte ihn. Es war besser. Ein besseres Leben. Sie mochte ihn, sie mochte ihn.
Harry parkte den Wagen auf der Straße vor Beckers Haus. Er blieb sitzen und starrte auf das gelbe Licht, das durch die Fenster in den Garten fiel. Der Schneemann war zu einem Zwerg zusammengeschrumpft. Aber sein Schatten streckte sich trotzdem noch bis zum Zaun.
Harry stieg aus. Er schnitt eine Grimasse, als das stählerne Tor in den Angeln kreischte. Im Grunde wusste er, er hätte klingeln sollen, schließlich war ein Garten genauso privat wie ein Haus. Aber er hatte weder Geduld noch Lust, jetzt mit Professor Becker zu diskutieren.
Der nasse Boden federte leicht. Harry ging in die Hocke. Der Schneemann reflektierte das Licht, als wäre er aus mattem Glas. Während des Tauwetters hatten sich die Schneekristalle verklumpt, doch da es jetzt wieder fror, zogen sich die Klumpen zusammen, so dass der Schnee nicht mehr leicht, fein und
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