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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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weiß, sondern grauweiß, dicht und grobkörnig war.
    Harry hob die rechte Hand, ballte die Faust und schlug zu. Der Kopf des Schneemanns platzte, kippte über die Schultern nach hinten und stürzte auf das braune Gras.
    Harry schlug noch einmal zu. Dieses Mal von oben durch die Halsöffnung. Seine Finger gruben tiefer und fanden, was sie suchten.
    Er zog seine Hand zurück und streckte sie triumphierend vor dem Schneemann in die Höhe. Mit der gleichen Geste demütigte auch Bruce Lee seine Widersacher, wenn er ihnen das Herz präsentierte, das er ihnen gerade aus der Brust gerissen hatte.
    Es war ein rot-silbernes Nokia-Telefon, dessen Display noch immer schwach leuchtete.
    Nur das Gefühl des Triumphs war erloschen. Denn er wusste, dies war kein Durchbruch in den Ermittlungen, sondern nur das Zwischenspiel in einem Marionettentheater, bei dem ein Unbekannter an den unsichtbaren Strippen zog. Es war zu einfach gewesen. Jemand hatte gewollt, dass sie dieses Telefon fanden.
    Harry ging zur Tür und klingelte. Filip Becker öffnete. Seine Haare waren strubbelig, und sein Schlips hing schief. Er blinzelte mehrmals, als hätte er geschlafen.
    “Ja”, antwortete er auf Harrys Frage. “So ein Handy hat sie.” “Darf ich Sie bitten, mal ihre Nummer zu wählen?”
    Filip Becker verschwand im Haus, und Harry wartete. Plötzlich tauchte Jonas’ Gesicht in der Türöffnung hinter dem Windfang auf. Harry wollte ihn begrüßen, doch im gleichen Moment begann das rote Handy eine Melodie zu spielen.
    Er sah Jonas’ Gesicht aufleuchten. Sah, wie das Gesicht des Kleinen unerbittlich arbeitete, ehe die spontane, verwirrte Freude über das vertraute Klingeln des mütterlichen Handys verschwand und der nackten Angst Platz machte. Harry schluckte. Diese Furcht kannte er nur allzu gut.
    Als Harry seine Wohnungstür aufschloss, nahm er den Geruch von Gipsplatten und Sägespänen wahr. Die Vertäfelung der Flurwand war abmontiert und auf dem Boden gestapelt worden. Das Mauerwerk darunter zeigte weiße Flecken. Harry fuhr mit dem Finger über den hellen Belag, der aufs Parkett rieselte. Er steckte den Finger in den Mund. Es schmeckte salzig. War das der Geschmack von Schimmel? Oder bloß eine Art Salzausschlag, der Schweiß des Fundamentes? Harry zündete ein Feuerzeug an und lehnte sich dicht an die Wand. Kein Geruch, nichts zu sehen.
    Nachdem er ins Bett gegangen war und im hermetischen Schwarz des Schlafzimmers lag, dachte er an Jonas. Und an seine eigene Mutter. An den Geruch der Krankheit und ihr Gesicht, das immer mehr im Weiß des Kissens verschwunden war. An die Tage und Wochen, in denen er mit S0S gespielt hatte, während ihr Vater immer stiller geworden war. Sie alle hatten so getan, als wäre nichts geschehen. In diesem Moment war ihm so, als hörte er draußen im Flur ein leises Rascheln. Wie von unsichtbaren Marionetten-Schnüren, die immer länger wurden, durch das Dunkel schlichen, es langsam aufzehrten und ein schwaches, zitterndes Licht zurückließen. 

KAPITEL 7
    3. Tag. Dunkelziffer
    Das kraftlose Morgenlicht drang durch die Gardinen im Büro des Kriminaloberkommissars und ließ die Gesichter der beiden Männer ganz grau aussehen. Kriminaloberkommissar Hagen zog die Stirn über seinen schwarzen, struppigen Augenbrauen in Falten, während er Harry zuhörte. Einen kleinen Sockel auf dem gewaltigen Schreibtisch krönte der weiße Knochen eines kleinen Fingers, der laut der Inschrift einmal dem japanischen Bataillonskommandanten Yoshito Yasuda gehört hatte. Während seiner Zeit auf der Militärakademie hatte Hagen in seinen Vorlesungen über den Finger gesprochen, den sich Yasuda während des Rückzugs aus Burma im Jahre 1944 vor den Augen seiner Männer aus Verzweiflung selbst abgetrennt hatte. Erst ein Jahr zuvor war Hagen zu seinem früheren Arbeitgeber, der Polizei, zurückbeordert worden, um die Leitung des Dezernats für Gewaltverbrechen zu übernehmen. Da in dieser Zeit recht viel passiert war, hörte er relativ geduldig zu, während sein erfahrener Hauptkommissar über vermisste Personen dozierte.
    “Allein in Oslo werden jedes Jahr mehr als sechshundert Personen vermisst gemeldet. Nach ein paar Stunden tauchen dann aber alle wieder auf, mit Ausnahme von ein paar Dutzend. So gut wie keiner bleibt länger als ein paar Tage vermisst.”
    Hagen fuhr sich mit dem Finger über die Haare auf der Nasenwurzel, die seine Augenbrauen verbanden. Er musste die Budgetsitzung beim Polizeipräsidenten vorbereiten. Es ging

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