Schneemann
den Grundeigentümern hatte sie vorgeschlagen, ein paar der Bäume zu fällen, um für etwas mehr Licht zu sorgen, war aber auf einen derart deutlichen, schweigenden Widerstand gestoßen, dass sie nicht einmal auf einer Abstimmung bestanden hatte. Die Fichten wehrten unerwünschte Blicke ab, und so wollte man das hier oben am Holmenkollen, wo der Schnee lange liegen blieb, die BMWs und Volvos auf dem Heimweg zu den elektrischen Garagentoren vorsichtig durch die Haarnadelkurven der steilen Straßen steuerten und zu Hause die Hausfrauen in der Babypause warteten, fitnessstudiogestählt und mit dem Essen auf dem Tisch, das sie mit kleinen Hilfestellungen ihrer Au-pairs gekocht hatten.
Rakel hörte Olegs Musik sogar durch die dicken Zwischendecken der Holzvilla, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Led Zeppelin und The Who. Als sie in seinem Alter gewesen war, wäre es undenkbar gewesen, Musik zu hören, die so alt war wie ihre Eltern. Aber Oleg hatte diese Platten von Harry bekommen und spielte sie mit echter Hingabe.
Sie dachte daran, wie dünn Harry geworden war, irgendwie verschrumpelt. Wie ihre Erinnerung an ihn. Es war schon erschreckend, wie schnell ein Mensch verblassen und verschwinden konnte, obwohl man einmal so intim mit ihm gewesen war. Oder vielleicht gerade deswegen: Man war sich so nah gewesen, dass es einem anschließend, wenn es vorbei war, so unwirklich vorkam wie ein Traum, den man schon fast vergessen hat. Vielleicht hatte es sie deshalb so schockiert, ihn wieder zu sehen. Ihn zu umarmen, zu riechen, seine Stimme zu hören und den Mund mit den seltsam weichen Lippen zu sehen, die in starkem Kontrast zu dem harten, immer faltigeren Gesicht standen. Diese blauen Augen, die vor Intensität aufblitzen konnten, wenn er etwas erzählte. Genau wie früher.
Trotzdem war sie froh, dass es vorüber war. Sie hatte diese Beziehung hinter sich gelassen und wollte weder ihre Zukunft mit diesem Mann teilen noch seine schmutzige Wirklichkeit zu einem Teil ihres und Olegs Lebens werden lassen.
Es ging ihr jetzt besser. Viel besser. Sie sah auf die Uhr. Bald würde er hier sein. Denn im Gegensatz zu Harry war er pünktlich.
Mathias hatte plötzlich im Sommer des vergangenen Jahres vor ihr gestanden. Bei einem Gartenfest des Holmenkollen-Grundeigentümerverbandes. Er wohnte nicht einmal in der Gegend, sondern war von Freunden eingeladen worden. Er und Rakel saßen den ganzen Abend zusammen und redeten. Im Grunde nur über sie. Und er hörte ihr aufmerksam zu, irgendwie wie ein Arzt, hatte Rakel gedacht. Doch dann rief er zwei Tage später an und fragte sie, ob sie ihn nicht auf eine Kunstausstellung ins Henie-Onstad-Senteret in Hovikodden begleiten wolle, Oleg könne gerne mitkommen, denn es gäbe auch eine Ausstellung für Kinder. Das Wetter war schlecht, die Kunst mittelmäßig und Oleg miesgelaunt. Aber Mathias schaffte es mit seiner guten Laune und den spitzen Kommentaren über das begrenzte Talent der Künstler, die Stimmung aufzuhellen. Und anschließend fuhr er sie nach Hause, bat um Entschuldigung für die schlechte Idee und versprach lächelnd, sie nie wieder irgendwohin mitzunehmen. Außer natürlich, sie bäten ihn darum. Danach war Mathias eine Woche nach Botswana gereist und rief sie am Abend seiner Rückkehr wieder an, um zu fragen, ob sie sich wiedersehen könnten.
Sie hörte ein Auto die steile Auffahrt hochfahren. Er fuhr einen Honda Accord älteren Baujahrs. Aus irgendeinem Grund gefiel ihr das. Er parkte vor der Garage, nie darin. Auch das gefiel ihr. Genauso, wie sie es mochte, dass er jedes Mal Wäsche zum Wechseln und seinen Kulturbeutel mitbrachte und am nächsten Tag wieder mit nach Hause nahm - außerdem fragte er sie immer, wann sie ihn wiedersehen wollte, und nahm nicht alles für selbstverständlich. Natürlich würde sich das bald ändern, aber sie war bereit.
Er stieg aus dem Auto. Er war groß, fast so groß wie Harry, und lächelte mit seinem jungenhaft offenen Gesicht zum Küchenfenster, obwohl er nach seinem unmenschlich langen Dienst todmüde sein musste. Ja, sie war bereit. Bereit für einen Mann, der für sie da war, sie liebte und ihre kleine Dreieinigkeit für wichtiger hielt als alles andere. Dann hörte sie den Schlüssel im Schloss, den sie ihm letzte Woche gegeben hatte. Mathias hatte sie dabei erst wie ein Fragezeichen angesehen, wie ein Kind, das soeben eine Eintrittskarte für die Schokoladenfabrik bekommen hat.
Die Tür ging auf, er war im Haus, und sie flog ihm
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