Schneemann
Kriminalamt oder noch kürzer KRIPOS bezeichnet wurde.
Es war neun Uhr abends, und Espen Lepsvik hatte gerade seine Leute nach Hause geschickt, nachdem sie noch einmal den Stand der Ermittlungen durchgegangen waren. Nur ein Mann saß noch immer in dem kahlen, mit kaltem Licht erleuchteten Sitzungszimmer.
“Das war nicht viel”, stellte Harry Hole fest.
“Eine hübsche Umschreibung für nichts”, bemerkte Espen Lepsvik und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Augenlider. “Wollen wir ein Bier trinken gehen? Dann kannst du mir ja erzählen, wie es bei euch aussieht.”
Harry erzählte, während Espen Lepsvik Richtung Zentrum fuhr. Sie wollten ins Justisen, eine altehrwürdige Kneipe, die auf ihrer beider Heimweg lag und in der nicht nur durstige Studenten verkehrten, sondern auch noch durstigere Anwälte und Polizisten.
“Ich überlege, ob ich statt Skarre nicht Katrine Bratt mit nach Bergen nehmen sollte”, verkündete Harry und nippte an seiner Mineralwasserflasche. “Ich habe mir ihre Papiere noch einmal angesehen, bevor ich zu euch hochgefahren bin. Sie ist noch recht frisch, aber aus den Unterlagen geht hervor, dass sie schon an zwei Mardermittlungen beteiligt war. Hast nicht sogar du die geleitet?”
“Bratt, ja. An die erinnere ich mich gut”, bestätigte Espen Lepsvik grinsend und bestellte mit dem Zeigefinger ein weiteres Bier. “Warst du zufrieden mit ihr?”
“Verdammt zufrieden. Die ist … verdammt … gut.” Lepsvik zwinkerte Harry zu, der dessen verschleierten Blick bemerkte. Lepsvik hatte bereits drei Bier intus. “Wären wir nicht beide verheiratet, hätte ich vielleicht einen Versuch bei ihr gewagt, wer weiß?”
Er leerte sein Glas.
“Ich wollte eigentlich eher wissen, ob du sie für einigermaßen stabil hältst? “, fragte Harry.
“Stabil?”
“Ja. Ich weiß nicht, aber da ist irgendetwas, … ich kann das nicht erklären, … so was Extremes. “
“Ich verstehe, was du meinst.” Espen Lepsvik nickte langsam, während sein Blick auf Harrys Gesicht Halt zu finden versuchte. “Ihre Akte ist blitzsauber. Aber unter uns, ich hab damals so Gerede über sie und ihren Mann gehört.”
Lepsvik suchte in Harrys Gesicht nach einer Ermunterung weiterzureden. Als er nichts sah, fuhr er trotzdem fort:
“Etwas … Du weißt schon … Lack und Leder. So SadomasoZeugs. Die sollen in so Clubs gehen. Ein bisschen pervers.”
“Das geht mich nichts an”, meinte Harry kurz angebunden. “Tja, mich ja eigentlich auch nicht.” Lepsvik breitete abwehrend die Arme aus. “Außerdem ist es ja bloß ein Gerücht. Und weißt du was? ” Lepsvik lachte glucksend und beugte sich über den Tisch, so dass Harry seinen Bieratem roch: “Sie dürfte mir ruhig ein Halsband anlegen. “
Harry merkte, dass seine Augen ihn verraten hatten, denn Lepsvik sah mit einem Mal aus, als bereue er seine Offenherzigkeit, und zog sich rasch auf seine Seite des Tisches zurück. Dann fuhr er in einem etwas geschäftsmäßigeren Ton fort:
“Diese Frau ist ein Profi. Klug. Engagiert und einsatzbereit.
Mitunter bestand sie sehr hartnäckig darauf, dass ich ihr bei ein paar Fällen half, die längst zu den Akten gelegt worden waren. Aber als instabil würde ich sie nicht bezeichnen, eher im Gegenteil. Vielleicht ein bisschen verschlossen und seltsam. Aber das
sind ja einige von uns. Ja, ich könnte mir sogar vorstellen, dass ihr ein perfektes Team wärt.”
Harry lächelte über den Sarkasmus und stand auf. “Danke für den Tipp, Lepsvik.”
“Und wie wäre es mit einer Gegenleistung? Einem Tipp von dir?
Läuft da was … zwischen dir und ihr?”
“Mein Tipp lautet”, sagte Harry und warf einen Hunderter auf den Tisch, “dass du das Auto lieber gleich stehen lassen solltest.”
KAPITEL 14
9. Tag. Bergen
Präzise um 08.26 Uhr setzten die Räder der DY604 aus Oslo auf dem nassen Asphalt des Flughafens Flesland auf. Die Landung war so hart, dass Harry jäh aus dem Schlaf gerissen wurde.
“Gut geschlafen?”, fragte Katrine.
Harry nickte, rieb sich die Augen und starrte in die regenverhangene Morgendämmerung.
“Du hast im Schlaf geredet”, sagte sie lächelnd.
“Hm.” Harry wollte nicht näher nachfragen. Stattdessen versuchte er sich zu erinnern, was er geträumt hatte. Es war nicht um Rakel gegangen. Auch diese Nacht hatte er nicht von ihr geträumt. Er hatte sie vertrieben. Sie hatten sie gemeinsam vertrieben. Vielmehr hatte er von Bjarne Moller geträumt, seinem Chef und
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