Schneemond (German Edition)
noch nicht an der Spitze der Nahrungskette und die Jagd barg oft genug tödliche Gefahren.
Das Mädchen spürte die Hände der Mutter auf den Schultern und wusste, was siedachte. Heute war der ältere Bruder des Mädchens das erste Mal mit den Jägern hinausgezogen. Heute war sein großer Tag, an dem er das erste Mal ein Wild mit seinen eigenen Händen erlegen sollte - eine Tat, die ihn zum Mann machen würde.
Die Jäger kamen näher und waren bald auf Rufweite heran.
Und da sahen sie ihn. Der Junge schritt stolz und hoch erhobenen Hauptes zwischen den Männern heran, über die Schulter ein großes Stück Fleisch geworfen. Seine breiten Schultern und sein gebräunter Brustkorb glänzten vom Blut der Beute.
Er hatte es geschafft. Nun war er ein Mann.
Bevor Mutter Sonne am höchsten Punkt ihrer Himmelsreise angelangt war, hatte er sein erstes Wild erlegt. Das Mädchen sah zu seiner Mutter auf und erkannte den Stolz in ihrem Blick. Diese große Tat des Jungen fiel natürlich auch, wie warmes Sonnenlicht, auf seine Familie. Schon sein Vater war einer der größten Jäger des Stammes, doch nicht einmal er hatte seine erste Beute in so kurzer Zeit zur Strecke gebracht.
Das Mädchen hüpfte vor Freude. Wusste sie doch, was das bedeuten würde. Heute Abend würde es nicht nur reichlich Fleisch für alle geben, nein, es würde auch ein Fest zur Ehre der Mannbarkeit ihres Bruders stattfinden. Ein
großes
Fest!
Endlich traten die Jäger aus dem Gras heraus, auf die Lichtung unter den Bäumen und legten, unter großem Jubel, ihre Beute aus.
Zwei Antilopen und ein Warzenschweinfrischling – die Ausbeute war so groß wie schon seit vielen Wochen nicht mehr.
Die Jäger überschlugen sich regelrecht mit ihren Erzählungen, über das Jagdglück des Jungen, bis Nor-ga, der Häuptling des Stammes, nach Ruhe verlangte.
Mit ruhiger Stimme erinnerte er den Jungen an seine Verpflichtung.
Der Junge bückte sich, holte sein Feuersteinmesser hervor und trennte ein großes Stück Fleisch von seiner Jagdbeute. Mit den anderen Jägern im Gefolge machte er sich auf den Weg hinauf zur Höhle. Die Jäger hinter ihm stimmten einen rhythmischen Gesang an, den sie mit dem Stampfen ihrer Speere begleiteten.
Die Frauen und Kinder, indes, begannen die erlegten Tiere zu zerteilen. Kein Stück Haut, keine Sehne und kein Knochen würde verkommen. Alles wurde gebraucht und konnte verwendet werden.
Als sie vor der Höhle ankamen, blieben sie, immer noch singend und stampfend, stehen und der Junge legte das Stück Fleisch zu Füßen des alten Mannes ab, der am Eingang auf einem Felsen saß und seine trüben, fast blinden Augen zum Horizont gerichtet hatte.
Der Alte schien zerbrechlich und schwach, so hager und sehnig war sein Körper, doch verfügte er über eine große innere Kraft und einen zähen Willen, die man auf den ersten Blick nicht vermuten mochte. Dennoch hatte er nie zum Jäger getaugt und wäre somit wohl eine Belastung für den Stamm gewesen, in den er vor mehr als vierzig Winter hineingeboren wurde, hätten diese Menschen in solchen Kategorien gedacht.
Natürlich hatte ein Jeder seinen Beitrag für die kleine Gemeinschaft zu leisten und nichts war umsonst. Doch nie würde es diesen einfachen – primitiven – Menschen in den Sinn kommen, einen der Ihren seinem Schicksal zu überlassen, weil er nicht über diegleichen Kräfte und Geschicke verfügte, wie Andere. Ein Jeder konnte seinen Beitrag leisten, ein Jeder nach seinen Möglichkeiten. Und alle Fähigkeiten wurden geschätzt und gleich hoch geachtet.
Und so hatte sich gezeigt, vor langer Zeit, dass der alte Mann eine besondere Gabe besaß. Zwar konnte er den Feuerstein nicht so kunstfertig bearbeiten oder den Speer so treffsicher schleudern, wie viele seiner Brüder, doch er verstand die Zeichen der Geister zu deuten, die sie umgaben und wurde so, geführt von dem weisen Mann, der vor ihm war, zum Schamanen des Stammes.
Der Junge setzte sich zu Boden und blickte zu dem Schamanen auf. Die Jäger des Clans ließen sich im Kreis um den Jungen und den Schamanen nieder.
Das Singen der Jäger war nun zu einem leisen, eindringlichen Murmeln gesunken und unterstrich die Wichtigkeit und Würde der nächsten Augenblicke. Langsam senkte der Schamane den Blick und sah auf den jungen Jäger, der erwartungsvoll und voller Aufregung vor ihm kniete. Er betastete das Stück Fleisch, das vor ihm lag und nickte schließlich zustimmend.
Dann bedeutete der Schamane dem Jungen näher zu
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