Schneemond (German Edition)
irgendetwas zu ändern.
Als er aufsah, stand sie direkt vor ihm.
Er blickte aus nächster Nähe in ihre schimmernd grünen Augen, in denen er bisher nur bitterste Vorwürfe zu sehen geglaubt hatte. Dieser Blick, der ihn stets zurück in seine Realität und in ein Meer von Schmerzen geworfen hatte. Doch nun sah er in diese Augen, furchtsam zuerst, doch dann zunehmend erstaunt und er erkannte die unglaubliche Tiefe des Geistes der hinter diesem Horizont schlummerte.
»Weshalb bin ich hier?«, hörte er sich fragen.
»Damit Du verstehst«, antwortete sie.
»Was verstehen..., was meinst Du?«
Sie legte ihm die Hand auf die Wange und sah ihn jetzt fast zärtlich an. Die Berührung ließ seinen Traumkörper wie ein tiefer, fast nicht hörbarer Glockenton erzittern. Sie beugte sich ganz nahe zu ihm und flüsterte ihm leise zu:
»Erinnere Dich daran, wenn es so weit ist.«
Dann zog sie ihre Hand sanft zurück, wandte sich von ihm ab und ging langsam fort – barfuss und nackt, wie er erst jetzt bemerkte – über den vom Wind glatt gezogenen Schnee, ohne Abdrücke zu hinterlassen.
»Woran soll ich mich erinnern?«, wollte er ihr nachrufen, doch seine Stimme versagte ihm.
Er wollte ihr nachlaufen, doch er konnte keinen Fuß vor den anderen setzen. Als er an sich heruntersah, bemerkte er entsetzt, dass er in der weißen, pulvrigen Masse, welche die Erde bedeckte, langsam wie in Treibsand versank.
Er kämpfte und schlug wie wild um sich, doch er wurde unaufhaltsam nach unten gezogen. Kurz bevor der Schnee über ihm zusammenschlug und ihn Dunkelheit umfing hörte er ihr Flüstern nahe an seinem Ohr.
»Erinnere Dich.....«
»Lukas, verdammt, wach auf.«
Ben schüttelte ihn dermaßen, dass er plötzlich Angst hatte, seine Ohren und seine Nase würden abfallen.
»Hey, langsam Mann, ich bin ja wach.«
Lukas brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren, doch dann erkannte er, dass er immer noch in Ben’s Wagen saß. Ben lehnte sich auf seinem Sitz zurück.
»Mein lieber Mann, dass war ja wohl ein heftiger Albtraum. Du hast gezappelt wie ein Fisch auf dem Trockenen. Hab schon Angst gehabt, Du schlägst mir die Scheiben ein. Bist Du wieder okay?«
Lukas klopfte Ben leicht auf die Schulter, was dessen Redefluss augenblicklich unterbrach. »Mir geht’s gut Ben, keine Sorge, mir geht’s gut.«
Doch Ben sah ihn aufmerksam an und schien ihm nicht recht zu glauben.
»Was guckst Du dann so verstört, Luk. Irgendwas stimmt doch nicht?«
Und tatsächlich war Lukas gerade etwas bewusst geworden, was ihn sehr erstaunte und auch freudig überraschte.
»Du hast recht Ben, da stimmt wirklich was nicht! Weißt Du, ich habe diese Träume sehr oft seit dem Unfall gehabt, aber das ist das erste mal, dass ich mir danach, vor lauter Kopfschmerzen, nicht die Seele aus dem Leib kotze....«
Ben’s Gesicht blieb irgendwo zwischen Abscheu und Grinsen stecken, als er sagte: »Na ich für meinen Teil halte das ja für eine sehr positive Entwicklung und möchte Dir auch im Namen meines Wagens herzlich für Deine Rücksichtnahme danken.«
Lukas war mittlerweile wieder ganz klar und sah erstaunt aus dem Fenster. »Hey, wo sind wir eigentlich?«
»Na wo wohl, Du Schlafmütze«, sagte Ben, während er sich aus dem Auto wuchtete. »Wir sind am Ziel unserer Reise. Guck Dich ruhig um. Das ist innächster Zeit Deine Wirkungsstätte.«
Lukas stieg langsam aus und versuchte sich zu orientieren. Sie schienen auf einem Parkplatz mitten im Wald gestrandet zu sein. Doch als er sich umsah, bemerkte er, dass dieser Parkplatz neben einem langgezogenen dreistöckigen Gebäude lag, das mit seinem steilen Walmdach und der efeuüberwucherten Fassade in der Zeit hängen geblieben zu sein schien.
Nach und nach machte er zwischen den Bäumen bruchstückhaft andere Gebäude aus und sah schließlich, als er hangwärts blickte einen großen, schlossähnlichen Bau über die Baumwipfel ragen. Und endlich dämmerte es ihm, dass es sich bei allen diesen Bauten um
eine
Anlage handelte, dass all dies miteinander
verbunden
war.
Und bei dieser Erkenntnis verschlug es ihm den Atem.
Als er sich zu Ben umdrehte, sah er in das zufriedenste Grinsen, das je ein Mensch aufgesetzt hatte.
»Zwei Monate?«, fragte Lukas ihn. »Heiliger Strohsack Ben, dafür brauchen wir zwei
Jahre
!«
Kapitel 6.
S amuel stand wieder am Fenster und blickte hinaus, doch sein Blick war nach innen gerichtet. Nach innen auf die Erinnerungen an seine Zeit mit Karen. Es hatte damals
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