Schneemond (German Edition)
ankommen.«
Schließlich schien Torrens seinen inneren Widerstand endgültig überwunden zu haben.
»Wie Sie wissen, Sam, stamme ich aus Mexiko. Meine Mutter kam Ende der fünfziger Jahre in dieses Land und heiratete zwei Jahre später meinen Vater, einen Polizisten aus San Antonio, dessen Vorfahren ebenfalls aus Mexiko stammten. Ich habe mit meiner Mutter oft meine Großmutter in Quitenada,einem kleinen Nest, etwa siebzig Meilen von der Grenze entfernt, besucht. Und ich sage Ihnen Sam, ich habe diese alte Frau abgöttisch geliebt. Sie war klein, mit weißen, langen Haaren und einem wettergegerbten Gesicht. Und ihre Augen, ihre Augen sprühten vor Kraft und Lebensfreude. Ich weiß noch gut, immer wenn wir bei ihr waren, nahm sie mich nachts mit auf einen Hügel vor der Stadt und dort, unter einem Baum, nur mit den Sternen am klaren Himmel über uns, erzählte sie mir Geschichten.
Willst du eine Geschichte hören, Franco,
sagte sie dann zu mir und ich rief immer wieder begeistert:
Ja Nana, erzähl mir eine Maya-Geschichte.
Sie müssen wissen, Sam, meine Großmutter war eine Quiche-Maya und keine kannte die Mythen und Legenden dieses Volkes so gut wie sie.«
Frank Torrens schloss die Augen und senkte den Kopf.
»Ich habe tagelang nur geheult, als sie starb. Ich habe mich gefühlt als hätte man mir das Herz herausgerissen – und heute weiß ich, dass ein Teil meiner Kindheit damals, mit dieser wundervollen, alten Frau, gestorben ist.«
Moore hörte die Trauer und Verzweiflung in Torrens Stimme und ließ ihm Zeit sich wieder zu fangen.
»In diesen Nächten hat sie mir Geschichten von Göttern, Kriegern und Fabelwesen erzählt und hinter meinen geschlossenen Augenlidern unglaublich fantastische und unbeschreibliche Bilder heraufbeschworen. Ich habe gesehen wie Huracán der Himmelsgott sich mit Gucumátz, der Federschlange zusammengetan hat, um die Erde zu gestalten. Ich war dabei, bei ihren Versuchen, die Menschen zu erschaffen. Ich habe den Sieg der göttlichen Zwillinge über den hochmütigen und anmaßenden Gott
Sieben-Papageien
miterlebt und vieles, vieles mehr. Überhaupt waren die göttlichen Zwillinge meine Helden. Nichts konnte die Beiden aufhalten und bezwingen. Und wenn sie doch mal unterlagen, dann haben sie schließlich durch eine List doch wieder gesiegt. Die Beiden waren wirklich die Supermänner meiner Kindheit. Ich konnte mir die Geschichten meiner Nana wieder und wieder anhören. Und immer hab ich sie genervt:
Nana erzähl mir noch mal dies,
oder,
Nana erzähl mir noch mal das.
Und sie wurde nie müde ihrem kleinen Franco jede Einzelheit immer neu auszuschmücken. Irgendwann hatte ich gedacht, dass ich alle ihre Geschichten kenne, was mich jedoch nicht davon abgehalten hat, ständig aufs Neue danach zu verlangen. Und dann eines Tages, sieben Tage vor ihrem Tod – was ich damals nicht wusste – sagte sie zu mir:
Franco, ich will dir heute eine Geschichte erzählen, die du noch nicht kennst.
Ich sehe sie noch vor mir, als wäre das erst gestern gewesen. Sie war so ungewöhnlich ernst und als sie das sagte, lag eine Spannung in ihrer Stimme die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Und sie sagte:
Ich will dir die Geschichte von Hunahpú und Ixbalanqué, den göttlichen Zwillingen und ihren Kampf gegen Cabracán den Zerstörer erzählen. Aber Nana,
erwiderte ich,
diese Geschichte hastdu mir doch schon oft erzählt.
Sie wirkte traurig, als sie mich schließlich ansah.
Nicht, wie sie wirklich war, Franco,
erklärte sie mir und dann fing sie an zu erzählen. Cabracán zog durch die Welt und zerstörte, was immer die Schöpfergötter oder auch seine Eltern und Geschwister aufgebaut hatten. Er war das Chaos und konnte sich nicht an den schönen Dingen erfreuen. Wo ein Berg erschaffen wurde, ebnete Cabracán ihn wieder ein. Das wollten Hunahpú und Ixbalanqué nicht länger hinnehmen. Da sie jedoch um die Macht von Cabracán wussten, ersannen sie eine List. Sie näherten sich ihm als Jäger und prahlten vor ihm von einem neuen Berg im Osten, den sie entdeckt hätten. Der Zerstörer verlangte sofort von ihnen, dass sie ihn zu dem Berg führen würden. Also brachen sie auf, Ixbalanqué voraus, Cabracán in der Mitte und dahinter Hunahpú. Unterwegs jagten die Brüder mit ihren Blasrohren Vögel und Cabracán war bald beeindruckt von ihrem Jagdglück und auch von ihrer Art die Vögel zuzubereiten. Die Zwillinge bestreuten nämlich das Wild vor dem Verzehr mit Kalk.«
Torrens lehnte sich zurück
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