Schneemond (German Edition)
Bewegungen schienen ihnimmense Kraft zu kosten – nahm den Hörer vom Telefon und wählte. Eine Weile erklang das Freizeichen, bis sich am anderen Ende der Leitung endlich eine Stimme meldete.
»Hallo?«
»Ja, ich bin’s. Er ist gerade gegangen.«
Eine Weile sagte Dr. Heimann nichts und auch sein Gesprächspartner schien keine Antwort für nötig zu befinden.
»Der Junge hat einen schweren Weg vor sich. Bitte pass gut auf Ihn auf, ja?«
Dann legte er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder eine Erwiderung abzuwarten, auf.
Die Fahrt kam ihm ewig lange vor. Ben hatte ihn schon um sieben Uhr morgens in seiner Wohnung abgeholt und ihm geholfen, seine paar Sachen ins Auto – so einem straßentauglichen Geländewagen – zu verstauen. Obwohl das Ungetüm bereits bis unters Dach mit Ben’s Sachen vollgestopft zu sein schien, fand Ben immer noch ein Plätzchen, um Lukas’ Taschen zu verstauen – und letztlich blieb sogar für Lukas selbst noch ein Sitz über. Nachdem er seine Schlüssel, mit einigen zusätzlichen Informationen, beim Hausmeister, Herrn Berger, abgegeben hatte, starteten sie in Richtung Niederbayern.
Lukas hatte in seiner ganzen Zeit in München kein eigenes Auto gehabt. In der Stadt war es wesentlich bequemer gewesen, auf U-Bahn, S-Bahn und Straßenbahn, sowie Busverbindungen zurückzugreifen. Und für die wenigen Male, wo es unvermeidlich gewesen war, hatte er sich einen Leihwagen genommen – und war beim Fahren jedes Mal durch tausend Höllen gegangen. Er war deshalb recht froh, dass Ben ihm sofort angeboten hatte, ihn in seinem Wagen mitzunehmen.
Nachdem sie im Norden vom Mittleren Ring auf die stadtauswärts führende Autobahn aufgefahren waren – vorbei an den neuen Doppeltürmen des HighLight Munic Buisness Towers – ging ihm langsam auf, dass mit dieser Abreise aus München ein wichtiger – und schlimmer – Abschnitt seines Lebens zu Ende ging und möglicherweise ein neuer, besserer begann. Als sie am neuen Stadion vorbeifuhren, konnte Ben offenbar das bisherige Schweigen nicht länger ertragen.
»Mann, sieh dir das an, in ganz München wird an allen Ecken und Enden gebaut. Aber das ist schon das Sahneschnittchen, findest Du nicht.«, fragte er Lukas mit unverhohlener Begeisterung.
Lukas warf kurz einen Blick auf das monströse Gebäude.
»Hm, weiß nicht. Sieht ein bisschen aus wie ne Steppjacke, oder?«
Für diese Bemerkung erntete er von Ben einen finsteren Blick von derSeite.
»Sag’s ruhig, wenn du aussteigen willst. Das geht ganz schnell, da brauch ich nicht mal anhalten dafür.«, brummte er. Dann mussten beide lachen. Er versicherte Ben so nachdrücklich wie möglich, dass er nicht vorhatte, dieses wundervolle, große Auto bei voller Fahrt zu verlassen und dass er sich jetzt auch ganz anständig benehmen würde.
Sie waren beide gut aufgelegt, fast schon etwas aufgekratzt, wie ihm plötzlich bewusst wurde. Ben schaltete das Radio ein und steuerte den Wagen auf die A 92, während ein alter Simon & Garfunkel-Song Lukas langsam einlullte. Die Aufregung und die Strapazen der letzten Tage forderten schließlich ihren Tribut und Lukas döste ein, getragen von der leisen Musik und dem monotonen Summen des Motors.
Er hatte diesen Ort schon so oft gesehen, war in seinen Träumen schon so oft hierher getragen worden, dass ihn dieser bizarre Anblick nicht einmal mehr erstaunte. Er konnte die Kälte nicht wirklich körperlich spüren, aber das machte sie um kein Stück weniger bedrohlich. Fast hatte er das Gefühl, als lauere sie wie ein unsichtbarer Dämon am Rande seiner Wahrnehmung, um sich auf ihn zu stürzen, wenn er es nur wagen würde, sich mit seinen anderen Sinnen, außer Sehen und Hören, in ihre Reichweite zu wagen.
Und wieder erkannte er den Weg und den verkrüppelten, vom Wind zerfetzten Baum und er wusste, auch ohne näher zu kommen, was er zwischen dessen Wurzeln finden würde. Ein tiefer Schatten legte sich auf seine Seele, als er sich, wie schon so oft vorher fragte, warum ihm diese Bilder immer und immer wieder aufgebürdet wurden. Er hatte so verzweifelt nach einer Verbindung zu seinem Leben gesucht, hatte sich immer wieder gefragt, ob dieser Traum seine eigene Hilflosigkeit beim Tod von Sara und Eva widerspiegle – und hatte doch nie eine Antwort erhalten.
Er wollte sich dem Unvermeidlichen nicht mehr aussetzten, dass Unabwendbare nicht mehr mit ansehen und so drehte er sich um, zornig und beschämt über sein Unvermögen am Schicksal der Kinder
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