Schneerose (German Edition)
sich eine schlanke Gestalt. Das warme Violett ihrer Augen strahlt
ihm entgegen, doch ihre Miene verrät tiefe Besorgnis.
„Du solltest es beenden, bevor du noch mehr Schaden
anrichtest, als du ohnehin schon getan hast.“
Diese Art Gespräch führen sie nicht zum ersten Mal
und so fängt Orlando nur zu lachen an, ohne Vivienne auch nur eine Sekunde
ernst zu nehmen.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“
„Die Leute fangen an zu reden. Sie erwarten von
Chasity, dass sie härter durchgreift. Wenn sie dich noch länger schützt, dann
riskiert sie damit die Krone. Nicht mehr lange, und es wird die Ersten geben,
die sich gegen sie auflehnen.“
Auch mit diesen Worten erreicht sie ihn nicht. Er
kann sich nicht mehr daran erinnern, wie es, ist alleine dazustehen. Seit er
ein Vampir ist, steht er unter dem Schutz seiner Familie. Unter dem Schutz von
Chasity, der Königin der Vampire. Es erscheint ihm völlig abwegig, dass sich
daran je etwas ändern könnte. Auch Chasity, die seinetwegen zunehmend in
Bedrängnis gerät, interessiert ihn nicht.
„ Die Leute
reden “, äfft Orlando Vivienne amüsiert nach. „Warum sprichst du sie nicht
direkt beim Namen an? Es ist kein Geheimnis, dass Claudia niemandem auch nur
ein bisschen Spaß gönnt. Das liegt einzig und allein daran, dass sie selbst so
frustriert ist. Würde sie sich auch mal auf ein kleines Abenteuer einlassen,
würde sie das Ganze vielleicht auch mal etwas lockerer sehen. Sie ist
eifersüchtig.“
„Ihre Bedenken sind nicht abwegig. Wenn du zu viel
Zeit mit Menschen verbringst, kommt irgendwann einmal jemand hinter dein
Geheimnis und dann dauert es nicht lange, bis wir alle auffliegen. Willst du
das?“
„Es ist lächerlich, dass wir uns vor den Menschen
verstecken, wo wir so viel mächtiger sind. Wenn die Sonne nicht wäre, hätten
sie schon längst gegen uns verloren…“, gibt Orlando bedenkenlos von sich,
woraufhin Vivienne nur genervt die Augen zusammenkneift.
„Es ist mir egal, was du da wieder am Laufen hast,
aber du solltest es sowohl in deinem als auch in dem Interesse der armen
menschlichen Frau, die auf dich reingefallen ist, so schnell wie möglich
beenden.“
Ihre Stimme bebt vor Wut. So aufgebracht hat Orlando
sie schon lange nicht mehr erlebt. „Hey, was hast du denn? Ist doch nichts
passiert. Vertrau mir, ich hab da meine Erfahrungen...“, scherzt er weiter und
weicht erschrocken zurück als Vivienne mit ihren bloßen Fingern das Weinglas in
ihrer Hand zerdrückt. Blut, sowohl ihr eigenes als auch fremdes, läuft ihren
Arm hinab und tropft zu Boden, während sie selbst am ganzen Körper zittert. Die
Schnitte in ihrer Hand verheilen zwar schneller als man mit bloßem Auge
wahrenehmen kann, doch ihre Stimme hat einen bedrohlichen Ton angenommen.
„Kannst du dir auch nur im Entferntesten vorstellen,
was für ein Gefühl es ist, die Menschen zu töten, die du liebst, nur weil unser
Kodex oder dein eigener Blutdurst dich dazu zwingt?“
Vor Orlandos innerem Auge taucht das Bild einer
bleichen Frau in seinen Armen auf. Ihr Herz rast und er schüttelt den Kopf, um
die Erinnerung zu vertreiben.
„Die Wenigen, die deinen Angriff überleben,
empfinden nur noch Hass und Verachtung für dich. Trotzdem kannst du nicht
aufhören, sie aus dem Verborgenen zu beobachten und zu sehen, wie sie alt und
immer schwächer werden, bis sie schließlich sterben.“
Die Atmung der Frau hört abrupt auf. Blut läuft
ihren Hals hinab von der Wunde, die seine scharfen Zähne hinterlassen haben.
Nein! Daran will er nicht denken. Doch Vivienne fährt unbarmherzig fort.
„Das ist nicht das Leben, das für die Menschheit
vorherbestimmt war. Menschenleben sollten nicht Jahrhunderte überdauern. Je
länger wir leben, desto mehr verkommen wir.“
Er presst schreiend und weinend seinen blutenden Arm
auf den geöffneten Mund der Frau, doch es ist zu spät. Ihr Herz ist bereits zum
Stillstand gekommen.
„Es ist das letzte Mal, dass ich für dich und Mary
gelogen habe!“
Viviennes Worte sind ungewohnt hart und lassen
keinen Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit. So kennt er sie gar nicht. Sonst ist
sie immer die Ruhe in Person, nie aufbrausend und nie laut.
„Mary? Ist etwas passiert?“ Panik schwingt in seiner
Stimme mit, denn das kleine Mädchen ist die Einzige, mit der man ihn wirklich
erreicht. Ihr Wohlergehen liegt ihm mehr am Herzen als sonst irgendetwas.
Jedenfalls direkt nach seinem eigenen Wohl.
„Sie wurde in der Manor Street dabei
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