Schneerose (German Edition)
ihren Lippen und der ernste Ausdruck tritt zurück in ihre Augen. Seine Hand
liegt noch in ihrem Rücken, während ihre Nasenspitzen sich fast berühren. Als
er sich im sanften Mondlicht und den verschwimmenden Lichtern des Karussells zu
ihr hinabbeugt und seine Lippen vorsichtig auf ihre legt, ist ihm bewusst, dass
er sie zum ersten Mal wirklich küsst. Was sie erzählt, ergibt plötzlich einen
Sinn, denn sie ist nicht dieselbe. Der Kuss fühlt sich vollkommen anders an.
Ihm fehlen die Leidenschaft und das Feuer. Doch dafür besitzt er etwas anderes.
Zärtlichkeit und Wärme, jedoch nicht die Hitze einer engeriegeladenden
Stichflamme, sondern eher eine Innigkeit die tief in seinem Herzen beginnt und
sich dann über seinen gesamten Körper ausbreitet. Es gibt ein Wort, das ihm in
diesem Moment, trotz ihres seltsamen Benehmens, zu Liandra einfällt.
Liebenswert. Sie macht ihn glücklich.
Den Rest des Weges schweigen sie. Ab und zu
berühren sich die Ärmel ihrer Jacken und manchmal tauschen sie einen
schüchternen Blick dabei aus, doch es ist vollkommen klar, dass er sie heute
Nacht nicht in ihr Zimmer begleiten wird. Obwohl er das, trotz allem, immer
noch gerne täte, wenn er ehrlich zu sich selbst ist. Auch wenn er dieses Mal
andere Absichten hätte als zuvor. Es erscheint ihm nun geradezu abwegig mit
Liandra ein weiteres Mal zu schlafen oder sich wilden, hemmungslosen Sex
hinzugeben. Das geht nun nicht mehr. Jetzt, wo er die wahre Liandra kennt. Er
würde ihr gerne über das weiche seidene Haar streichen und dabei zusehen wie
sie langsam einschläft und sich ihre Brust hebt und senkt. Die ganze Nacht
könnte er sie ansehen, bereit sie von jedem bösen Traum zu befreien. Ein
Gefühl, welches vollkommen neu für ihn ist. Sie weckt den Beschützerinstinkt in
ihm, genau wie Mary, doch auf eine vollkommen andere Art und Weise. Durch sie
hat er das Gefühl nicht ganz so schlecht zu sein, wie er selbst immer glaubt,
wenn er sich der vielen Menschen bewusst wird, die er in den Jahrhunderten
bereits auf dem Gewissen hat. Mit Liandra an seiner Seite kann er alles
vergessen und es existieren nur noch sie beide.
Während der relativ kurzen Rückfahrt
schweigen sie einander an. Sie sind verlegen und wissen nicht wie sie die
Situation deuten sollen oder was daraus werden könnte. Erstaunlicherweise
findet Liandra ihre Stimme als erstes wieder, während ihr Blick unruhig über
die dunklen Tannen huscht, die das Anwesen der Greens einrahmen.
„Wie alt bist du eigentlich?“
Anlügen möchte er sie nicht, doch die
Wahrheit sagen kann er nicht.
„Jung“, entgegnet er ihr also mit einem
frechen Grinsen.
„Gehst du noch zur Schule?“
„Nein“
„Studierst du?“
„Nope“
„Arbeitest du?“
„Hab ich nicht nötig“
„Wovon lebst du denn dann?“, will sie
ungeduldig wissen und erhält zur Antwort nur ein weiteres Grinsen.
„Man könnte sagen, ich habe geerbt.“
„Wohnst du hier in der Nähe?“
„Wie kommst du darauf?“
„Ich habe dich neulich nachts auf dem Baum
vor meinem Fenster gesehen.“
Also doch. Aber anstatt es zuzugeben, fängt
Orlando nur laut zu lachen an. Vorbei ist es mit der Ehrlichkeit.
„Auf eurem Baum? Wie soll ich denn da
hochgekommen sein und was soll ich dort bitte gemacht haben? Hältst du mich für
einen Spanner?“
Böse funkelt Lia ihn an. Sie ist sich
sicher, dass sie ihn gesehen hat.
„Verfolgst du mich manchmal? Du kannst es
ruhig zugeben, wenn es so ist. Ich werde dir nicht böse sein.“, beteuert sie,
doch dieses Mal liegt sie komplett falsch. Wenn Orlando könnte, würde er sie
wahrscheinlich wirklich häufiger beobachten, doch das Sonnenlicht verbietet es
ihm. Er hat sich ihre suchenden Blicke also doch nicht eingebildet. Irgendetwas
scheint ihr Angst zu machen. Sie fühlt sich verfolgt. Nun lässt auch er seinen
Blick über den dunklen Wald schweifen und lauscht in die Stille, doch dort ist
nichts. Nicht mal ein Knacken von Zweigen, nur das leise Geräusch von Wind, der
durch Blätter pfeift.
Er öffnet ihr die Autotür.
„Wenn du mir sonst schon nichts von dir
verrätst, nennst du mir dann wenigstens deinen Namen?“
Es ist verboten seine Identität vor einem
Menschen bekannt zu geben, aber genauso verboten ist es sich mit einem zu
treffen oder mehr als nötig zu sprechen, also macht es auch keinen Unterschied
mehr. Warum sollte er ihr also den kleinen Gefallen nicht gönnen?!
Mit einer höfischen Verbeugung verneigt er
sich elegant vor Lia und
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