Schneerose (German Edition)
ihre Ohren und das Gelächter von
Menschen. Liandra seufzt und scheint wenig Lust zu haben hinunter in das
Nachtleben zu steigen.
„Wollen wir los?“, fordert Orlando sie
verunsichert auf. Er weiß einfach nicht wie er sie einschätzen soll. Sie ist
anders als jedes Mädchen vor ihr und er kann noch nicht sagen, ob ihm das
gefällt.
„Ich mag den Trubel nicht. Fährst du mich
bitte wieder nach Hause?“, entgegnet sie ihm leise, ohne zu wagen ihn dabei
anzusehen. Wie ein Häufchen Elend wirkt sie neben ihm. Ganz verschüchtert und
zurückgezogen. Was ist nur los mit ihr? Im „Exit“ wirkte sie so frei und
unbeschwert. Wie kann ein Mensch nur so unterschiedlich sein?
„Wir müssen nicht da reingehen. Wir können
auch einfach nur so ein bisschen am Strand entlang laufen. Wäre das okay?“,
fragt er sie höflich und sucht mit schiefgelegtem Kopf ihren Blick. Endlich
schaut sie auf und die Lichter der Vergnügungsmeile spiegeln sich in ihren
Augen. Die Sommerwiese gleicht nun mehr Moos. Sie ist so mystisch und
geheimnisvoll, fast wie aus einer anderen Welt. Viel Schlechtes muss sie schon
erlebt haben, so zweifelnd wie sie ihn anblickt. Doch scheint sie ihn für
vertrauenswürdig befunden zu haben, denn schließlich stimmt sie zu.
Als sie den Hang über spitze, glatte Steine
hinab klettern, reicht ihr Orlando galant seine Hand, doch Liandra starrt ihn
nur entgeistert an und steigt an ihm vorbei, ohne seine Hilfe anzunehmen. Er
wollte doch nur freundlich sein.
„Du bist eigenartig. Weißt du das
eigentlich? Erst nimmst du mich, einen Fremden, mit zu dir nach Hause und lässt
deine Haustür für jeden zugänglich offen stehen und jetzt tust du so als wolle
ich dich ausrauben oder dir sonst etwas antun. Was ist los mit dir?“
Liandra zuckt nur mit den Schultern und
murmelt mehr zu sich selbst: „Ich weiß.“
Je länger er mit ihr zusammen ist, desto komischer,
ja fast unheimlich erscheint sie ihm.
„Was weißt du?“
„Dass ich eigenartig bin. Du bist nicht der
Erste, der das zu mir sagt und ich bemerke es ja auch selbst.“
„Warum änderst du dann nicht etwas daran?“
„Ich kann nicht, weil ich es selbst nicht verstehe.
Ich tue so oft Dinge, die ich eigentlich gar nicht will, aber in dem Moment,
indem ich sie tue, kann ich nicht darüber nachdenken. Es passiert alles
irgendwie automatisch, so als wäre ich eine Puppe, die nach den Fäden anderer
tanzt.“
Er hört den Kummer in ihrer Stimme und
glaubt ihr. Vielleicht ist sie einfach verrückt, doch das erklärt nicht, warum
er ihr Blut nicht trinken konnte. Nein, da muss mehr dahinter stecken. Wieder
sucht sie verängstigt mit den Augen den leeren Strand ab. Hat sie Angst vor
ihm? Ist es das?
Sie laufen weiter über den feuchten Sand.
Es herrscht Ebbe und das Meer hat sich meilenweit zurückgezogen. Die Sterne
spiegeln sich in der feuchten Oberfläche und lassen einen mit etwas Fantasie
glauben man würde über die Milchstraße wandern.
Liandra macht ihn nervös, weil er sie
absolut nicht einschätzen kann. Mag sie ihn oder nervt er sie nur und sie kann
das Ende ihres Spaziergangs kaum erwarten? Besonders gesprächig ist sie ja
nicht gerade.
„Bereust du das mit uns auch?“
„Nein.“, kommt es sofort von ihr zurück,
wobei sie sich ertappt anhört und plötzlich trotz der Dunkelheit rot im Gesicht
wird. Sie zögert und kickt den Sand mit ihren Füßen von sich. „Das heißt, ich
weiß es nicht genau. Ich erinnere mich daran. Ich weiß was passiert ist und ich
könnte dir bis ins kleinste Detail sagen, was du anhattest oder wie du mich
wann angesehen hast.“ Sie schluckt und blickt mit Absicht überall hin, nur
nicht in sein Gesicht. Ihre linke Hand wandert an ihr Ohr und sie beginnt
unruhig an einem kleinen Perlenstecker zu drehen. „Ich erinnere mich nicht an
mich selbst. Ich weiß nicht, was ich mir gedacht oder dabei gefühlt habe. Ich
weiß nicht mal, was ich getan habe. Es ist als wäre jemand anderes in meinem
Körper gewesen, über den ich einfach keine Kontrolle habe und ich war nichts
weiter als ein Zuschauer, wie bei einem Film.“
Ihre Augen füllen sich mit Tränen, die sie
verärgert wegblinzelt. Orlando bekommt Mitleid mit ihr, so verrückt sie sich
auch anhört. Sie ist nicht die selbstbewusste und willensstarke Frau, die er
getroffen hat, aber trotzdem ist sie etwas Besonderes. Er trifft nicht oft
Menschen, die einem so direkt die reine Wahrheit sagen, ohne dabei etwas zu
verschleiern oder auszulassen. Sie hält
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