Schneerose (German Edition)
Herzen,
folgt dem lautesten Schlag. Als sie ihre Augen öffnet, befindet sie sich mitten
auf einer Lichtung. Der Eisregen hat aufgehört, die Sonne tritt hinter den
Wolken hervor und lässt den Wald in einem mystischen Glanz erstrahlen. Sie
schirmt sich mit der Hand die Augen vor der Helligkeit ab. Der Schnee
reflektiert die Sonnenstrahlen, sodass alles in ein unnatürliches Licht
getaucht wird.
Direkt vor sich erblickt Lia
nun den Ursprung des Trommelns von dem sie sich hat leiten lassen. Ein weißer
Hirsch steht zwischen zwei Bäumen und blickt in ihre Richtung. Nie zuvor hat
sie ein schöneres und stolzeres Tier gesehen. Sein Fell glänzt wie frischer
Schnee, während sein Atem kleine Wolken in der kühlen Dezemberluft hinterlässt.
Seine Augen leuchten rot wie Feuer.
„Lock
ihn, du kannst es.“
Vorsichtig und zitternd
streckt Lia dem Tier ihre Hand entgegen. Es liegen Meter zwischen ihnen und sie
glaubt nicht, dass so ein edles Tier jemals zu ihr kommen wird, doch da setzt
der Hirsch zögernd einen Huf vor den anderen und tritt in ihre Richtung.
„Zögere
nicht. Gib ihm Sicherheit. Du bist meine Tochter.“
Lia strafft ihren Rücken,
steht aufrecht da, zeigt keine Scheu.
„Komm zu mir“, flüstert Lia
und ist erstaunt über den Klang ihrer Stimme. Sie ist voll und sanft zugleich.
Stärke spiegelt sich in ihr wieder. Eine Stimme, der man vertrauen kann. Doch
es ist nicht ihre Stimme, die dort spricht. Es ist die Stimme in ihrem Kopf.
Der Hirsch steht nun direkt
vor ihr und blickt ihr aus seinen treuen Augen entgegen. Für einen Moment
verstummen alle Geräusche und Lia ist erfasst von der Magie, die in der Luft
liegt. Wie selbstverständlich findet ihre Hand die Stirn des mächtigen Tieres.
Sein Fell ist nass und doch warm von seinem zirkulierenden Blut. Wie Samt fühlt
es sich unter ihren Finger an. Ohne jede Regung duldet der weiße Hirsch ihre
Berührung. Sein Herzschlag zieht Lia an und lässt sie sich an ihn schmiegen.
Sie fühlt sich für einen Moment sicher und geborgen.
„Trink“ , befielt ihr da plötzlich
die fremde Stimme. Etwas in Lia schreit und will sich wehren, sagt ihr, dass es
nicht richtig ist, aber die Mitte in ihrem Inneren, verlangt nach Energie. Ihre
Zähne schlagen in den Hals des Hirsches. Blut läuft über ihre Lippen und auf
das schneeweiße Fell. Vergessen ist jeder Zweifel. Der Hunger überwiegt. Gierig
saugt Lia das warme Feucht in sich auf, schlingt unter dem Klang der wilden
Trommeln. Immer tiefer graben sich ihre spitzen Zähne in das weiche Fleisch des
Tieres. Erst als die Trommeln ersterben, lässt Lia von dem Hirsch ab. Tot und
blutüberströmt liegt das weiße Tier vor ihr zu Boden. An seinem Hals klafft
eine rote vollkommen zerfetzte Wunde. Erloschen ist der Glanz in seinen Augen,
leblos blicken sie zum Himmel empor, an dem sich gerade die Sonne hinter den
dichten Wolken verschiebt. Blut tropft von Lias Kinn auf ihre nackte,
schmutzige Brust. Der Schrei, der tief aus ihrer Kehle dringt und sie in die
Knie gehen lässt, ist unmenschlich, aber voller Qual. Es ist der Schrei eines
Tieres, das dem Tode näher als dem Leben ist.
„So what if you can see the darkest side of me
No one will ever change this animal I have become”
Zum ersten Mal versteht sie
die wahre Bedeutung des Songs „Animal I have become“ von Three days grace. Was
hat sie nur getan?
„Du lebst“ , flüstert die Stimme in
ihrem Kopf triumphierend und Lia empfindet sie nicht länger als trostspendend
und liebevoll, sondern verspürt Angst. Sie bringt sie dazu Dinge zu tun, die
sie nicht will. Was ist mit ihr passiert? Ist sie etwa selbst zum Vampir
geworden?
„Wir stehen weit darüber.“ , kommt es abwertend zurück.
„Ich hab den Hirsch getötet,
um sein Blut zu trinken. Wie würdest du das bitte sonst nennen?“, schreit Lia
laut heraus und kommt sich augenblicklich vollkommen wahnsinnig vor. Sie sitzt
nackt im Wald über dem von ihr getöteten Leichnam eines seltenen weißen
Hirsches und spricht mit sich selbst. Es schneit, ist eiskalt und sie müsste
eigentlich erfroren sein. Sollte sie jemand so sehen, würde man sie direkt
einweisen lassen, was vielleicht das Beste für alle wäre.
„Es war nicht sein Blut, sondern seine Energie, die du
ihm genommen hast.“
Lia versteht die Worte
nicht, für sie laufen sie auf ein und dasselbe heraus: Der Hirsch ist tot und
es ist ihre Schuld. Doch so sehr sie sich auch dagegen wehrt und sich wünschte
es wäre anders, muss sie zugeben,
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