Schneerose (German Edition)
Sprache
wiederfindet.
„Was
meint er damit, dass das Blut des Verräters SIE geweckt hat? Wer ist SIE?“
„Orlando
ist der Verräter...“, zischt Victor.
„...und
das Mädchen ist SIE.“, ergänzt Claudia. „Er muss ihr sein Blut gegeben haben,
dadurch hat es Chasity vergiftet. Sie war nicht erwählt. Er ist schuld, wenn Chasity
stirbt.“ Es fällt ihr so leicht, endlich einen Schuldigen zu haben, den sie für
alles Böse verurteilen kann. So muss sie sich nicht selbst schuldig fühlen,
weil sie Chasity nicht davon abgehalten hat. Mary hatte sie gewarnt. Claudia
hätte deshalb die Tat ausführen müssen. Sie hätte Chasity schützen müssen.
„Sucht
den Körper des Mädchens!“, befiehlt Victor, woraufhin ein Teil seiner Wachen
aus dem Zimmer eilen.
„Dafür
ist es zu spät.“, entgegnet Vivienne, die sich sonst aus solchen Diskussionen
zurückhält. „Kain erwartet uns.“
„Er
ist wieder auferstanden.“, stimmt Victor andächtig zu. „Wir haben die Chance
alles zu ändern. Vorbei ist die Zeit des Versteckens.“
„Es
ist Ende Dezember. Es gibt nur einen Ort auf der Welt, an dem jetzt nie die
Sonne scheint...“, sagt Vivienne leise vor sich hin, doch trotzdem lauschen
ihren Worten alle. „Grönland.“
„Endlich bist du erwacht.
Meine Seele wartet schon so
lange auf dich.
Unsere Zeit der Rache ist
gekommen.
Vorbei ist die Unterdrückung
und Demütigung.
Kehre zurück zu mir, meine
geliebte Tochter.
Meine offenen Arme erwarten
dich.
Gemeinsam werden wir
unbesiegbar sein.“
Ihre geflüsterten Worte sind
so sanft wie eine Feder. Längst vergessene Erinnerungen werden in ihr wach. Sie
spürt die sanften Wellen ihres Haares über ihr Gesicht streichen, so wie den
zarten Duft nach Rosen, der ihr Kuss auf ihrer Stirn hinterlässt. Ihre Arme
umschließen ihren winzigen Körper. Ganz leise klingt ihre Stimme in Lias Kopf
und tröstet sie hinweg über die Finsternis und die Einsamkeit, die nach dem
gleißenden Licht geblieben sind. Es ist so kalt, dass sie innerlich erschauert.
Als
sie ihre Augen öffnet, schmerzen sie, während ihr Kopf summt wie ein
Bienenstock. Das Licht ist immer noch hell, doch es nicht angenehm, sondern
grell und blendend. Vom Sturm aufgepeitschter Schneeregen donnert auf ihre
nackte Haut wie Hagelkörner. Ihr ganzer Körper fühlt sich wund und kalt an. Die
Blätter unter ihr rascheln und knistern, als sie sich darauf abstützt und
versucht sich auf zu richten. Sie sind rutschig und voller Schlamm, so wie Lia
selbst. Ihre Kleider sind nur noch Fetzen und ihre bleiche Haut von einer
Schicht aus Dreck und Blut überzogen. Mit einer Wucht kehrt die Erinnerung an
die vergangen Nacht zurück. Panisch fasst sie sich an ihren Hals. Die Haut
fühlt sich wund an, aber es gibt keine große blutende Wunde. Ist das möglich?
Wie lange liegt sie hier schon?
Verloren blickt sich Lia um.
Keine Frage, sie befindet sich noch immer im Wald. Ihre Erinnerung täuscht sie
also nicht komplett, doch irgendetwas ist anders. Sie fühlt sich anders. Etwas
in ihr hat sich verändert. Nichts ist mehr wie es mal war. Sie weiß es gibt
kein Zurück, obwohl ihr nicht mal klar ist, woran sie das erkennt. Sie weiß es
einfach. Es ist ein Instinkt, der tief aus ihrem Inneren kommt.
Ihre Beine fühlen sich
schwer und kraftlos an als sie sich erhebt. Die Zehen spürt sie kaum noch, fast
als wären sie erfroren. Ein Zittern durchfährt ihren ganzen Körper.
„Du musst essen!“ , flüstert ihr die Stimme in
ihrem Kopf zu. Ein Hungergefühl überkommt sie augenblicklich, doch es ist eine
andere Art von Hunger als sie es gewöhnt ist. Es kommt nicht aus ihrem Magen,
sondern aus ihrer Mitte. Es ist kein Knurren und Ziehen, sondern eher ein
Verlangen, dass sie vollkommen steuert und unter Beschlag nimmt.
„Höre auf dein Inneres und lass dich vom Leben leiten.
Spürst du wie es vibriert?“
Lia schließt die Augen. Der
Wind peitscht gegen ihre Ohren und macht es ihr erst unmöglich etwas anderes
als den Sturm zu hören, doch dann ist da plötzlich dieses leise Klopfen über
all um sie herum. Bumm, bumm, bumm...
Die Melodie von tausend
Herzen klingt in ihrem Inneren, so stark, dass sie selbst das Gefühl hat, dass
der Boden unter ihren nackten Füßen vibriert.
„Gebe dich nie mit den
Schwachen zufrieden, wähle die Starken. Je stärker ihre Energie ist, umso
stärker wirst du selbst.“
Blind lässt sie sich von der
lieblichen Stimme in ihrem Kopf leiten. Gleitet vorbei an trommelnden
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