Schneerose (German Edition)
dass Victor nicht daran glaubt
und selbst wenn, würde er sie wahrscheinlich trotzdem töten lassen für ihren
Verrat. Orlando hat versprochen, dass er rechtzeitig wiederkommen würde, doch
Mary ist sich nicht sicher, ob sie es ihm wirklich abnimmt oder ob sie es
überhaupt möchte. Es ist nicht so, dass sie des Lebens überdrüssig wäre. Es
gibt jede Menge Dinge, die sie noch gerne sehen oder erleben würde. Doch sie
weiß auch, dass ihr die meisten davon wohl oder übel verwehrt bleiben werden.
Wie sollte sie zum Beispiel jemals tagsüber eine Schule besuchen ohne in
Flammen aufzugehen? Oder wie soll sie jemals den „wahrer Liebe Kuss“ bekommen,
wenn sie für immer ein Kind bleibt? Ihr Leben ist einfach nur aussichtslos.
Sie
weiß, dass die ersten Sonnenstrahlen nicht mehr fern sein können. Vampire
spüren so etwas. Zudem merkt sie es am Verhalten der anderen. Sie sind alle
irgendwie unruhig und in Aufbruchsstimmung.
Betrübt
legt Mary den Kopf auf ihre angezogenen Knie und blickt hinauf zu dem kleinen
Zellenfenster. Sie lässt sich die kalten Regentropfen in das Gesicht wehen.
Stumm schließt sie die Augen und versucht zur Ruhe zu kommen. Sie will ihnen
nicht die Genugtuung geben zu schreien und zu weinen, sondern ihren Tod mit
Würde hinnehmen. Wenn sie schon im Leben keine Ehre oder Ansehen erzielen
konnte, so will sie wenigstens in Stolz sterben.
„Lasst
mich sofort durch, ich bin das Sprachrohr Kains.“, hört sie es wütend von weit
weg brüllen. Ganz ungewohnt ist ihr die Wut in der sonst so sanften und weichen
Stimme. Neugierig dreht sie den Kopf und sieht Vivienne in den Keller stürmen.
Sie ist vollkommen außer sich und eilt direkt zu Mary. Besorgt streckt sie ihre
Hände durch die Gitterstäbe nach Mary aus. „Komm zu mir!“, flüstert sie mit
zitternder Stimme und feuchten Augen. Mary gehorcht ihr und tritt zu ihr an das
Gitter. Sofort schließt Vivienne ihre Arme um sie und ein zarter Veilchengeruch
tritt ihr in die Nase. Sie nimmt einen tiefen Atemzug und saugt diesen
wunderbaren Geruch in sich auf, der ihr immer mehr als irgendetwas oder
irgendwer sonst Trost gespendet hat. Wann immer Vivienne da war, fühlte sie
sich geborgen und weniger allein. Sie ist die Mutter, die sie sich immer
gewünscht hätte. Ihre eigene starb so früh am Kindbett.
Zärtlich
streicht ihr Vivienne über die blutroten Locken und haucht ihr einen Kuss in
das Haar.
„Warum
hast du das nur gemacht? Orlando ist alt genug. Er ist selbst für sich
verantwortlich.“
Nun
macht sich auch in Marys Hals ein Kloß breit. „Ich wollte, dass er es besser
hat als ich. Er ist doch verliebt.“
„Er
ist jede Woche in eine andere verliebt und dafür lässt er zu, dass du dein
Leben riskiert. Sollte er zurückkommen, werde ich ihn eigenhändig köpfen,
verlass dich drauf.“
Mary
grinst, während sie leise schnieft. Vivienne zählt nicht unbedingt zu den
Personen mit dem größten Humor, doch sie versteht es besser als jede andere,
aufmunternde Worte in aussichtslosen Situationen wie dieser zu finden.
„Lasst
sie raus!“, fordert Vivienne nun die Wachen auf, doch diese heben nur abwehrend
die Hände.
„Sie
darf erst raus, wenn das Urteil vollstreckt wird. Befehl von Victor.“
„Niemand
kann ein Urteil über sie sprechen, solange Chasity nicht wieder bei Bewusstsein
ist. Das Urteil kann nur von der Königin gesprochen werden.“
„Chasity
ist doch längst Geschichte, ich bin der neue König.“, behauptet nun Victor und
tritt in den Keller.
„Du
hast keinerlei Anspruch auf den Thron. Selbst wenn Chasity tot wäre, wäre
Orlando als letzter Nachkomme der Moundrells König. Und würden wir ihn
ausschließen, käme dir immer noch Claudia als älteste Vampirin zuvor. Wie
willst du also deine Behauptung begründen?“, fragt Vivienne und bietet Victor
tapfer die Stirn.
Victor
zuckt nur mit den Schultern. „Noch nie etwas vom Gesetz des Stärkeren gehört?!“
„Ich
denke nicht, dass es Kain gefallen würde. Es ist seine Aufgabe zu urteilen und
nicht deine. Er hat uns befohlen nach Grönland zu reisen und stattdessen tötest
du lieber seine Kinder. Du kannst froh sein, wenn er dich nicht direkt in die
Sonne schickt, wenn wir bei ihm ankommen.“
Victor
grinst. „Welche Sonne? Schon vergessen? In Grönland scheint zu dieser
Jahreszeit nicht einmal eine einzige Stunde die Sonne, da wird er sich wohl mit
seinem Urteil gedulden müssen. Außerdem glaube ich eher, dass er mir dankbar
sein wird für die Entfernung
Weitere Kostenlose Bücher