Schneerose (German Edition)
„Lass deine Späße, niemand findet sie lustig!“
Sorgsam
blickt Mary hinter vorgehaltener Hand hinaus in den Hof. Nachdem sich ihre
Augen etwas an die Helligkeit gewöhnt haben, bemerkt sie erst die Schönheit des
Augenblicks. Tau liegt auf der gefrorenen Wiese und den Blättern der Bäume. Die
schwache Sonne spiegelt sich in der feuchten Oberfläche. Nass glänzt der Regen
auf den weißen Steinfiguren und Bänken. In der Mitte des Hofs gibt der
Springbrunnen plätschernde leise Geräusche von sich. Doch das größte Wunder
überhaupt ist der Regenbogen, der am Himmel schwebt. Wie eine Brücke in eine
andere Welt scheint er nur für sie bereit zu stehen. Doch auch Vivienne blickt
fasziniert hinaus in den Garten, kann ihre Augen kaum von dem Anblick
losreißen.
„Damit
wir uns auch schön an die Regeln halten, muss ich nun fragen: Ist jemand bereit
das Urteil für Mary entgegenzunehmen?“, meldet sich Victor wieder zu Wort und
blickt in die Runde. Es ist äußerst selten vorgekommen und doch ist es Teil
ihrer uralten Gesetze. Der, dessen Schuld von einem anderen übernommen wird,
gilt als reingewaschen.
„Nein?
Na dann... mach es gut Mary!“
„Ich
gehe!“, ertönt es da plötzlich laut und bestimmt von Vivienne. Mary reißt
erschrocken die Augen auf, so wie alle anderen auch. Claudia schüttelt den
Kopf. „Nein...“
„Du
bist Kains Sprachrohr“, empört sich Victor und ein Murmeln geht durch die
Vampirmassen, doch Vivienne tritt festen Schrittes auf Mary zu und ergreift ein
letztes Mal ihre kleinen, zitternden Hände.
„Es
tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe. Ich bin stolz auf dich. Du hast genau
das Richtige getan und jetzt ist es an mir das Richtige zu tun.“
Mary
quellen die Tränen aus den Augen. „Das hier ist nicht richtig. Du hast nichts
Falsches getan. Ich habe das Mädchen verwandelt und ich habe Orlando befreit,
nicht du.“
Bei
dem Geständnis über Lia ist der Schock unter den Vampiren förmlich zu hören.
Durch Marys Geständnis ist Orlando unschuldig.
„Auch
wenn man es nicht sieht, bist du heute enorm gewachsen. Du bist erwachsen
geworden, meine Kleine. Meine Aufgabe ist erledigt und ich möchte dir die
Chance geben endlich zu leben. Die Welt ist so groß und du hast noch lange
nicht genug gesehen.“ Vivienne beugt sich vor und der Geruch von Veilchen weht
Mary entgegen als ihr die dunkelhäutige Schönheit einen Kuss erst auf die linke
und dann auf die rechte Wange drückt.
„Ich
liebe dich. Du bist die einzige Tochter, die ich je hatte und ich hätte mir
keine bessere wünschen können.“
Schluchzend
wirft sich Mary in Viviennes Arme.
„Nein,
ich will nicht, dass du gehst. Es ist nicht richtig!“, jammert sie und klammert
sich an Viviennes Taille fest. Diese versucht sie sanft von sich zu lösen. Als
dies nichts hilft, blickt sie hilfesuchend zu Claudia. Sie nickt, während auch
ihr Tränen über das makellose Gesicht laufen. Kraftvoll, aber trotzdem tröstend
zieht sie die schreiende und weinende Mary von Vivienne und drückt sie an sich.
Viviennes
Blick gleitet über die versammelten Vampire, während sie lächelt. „Ich habe
lang genug gelebt. Kein Mensch sollte so lange leben. Wir sind nicht gemacht
für die Ewigkeit.“
Sie
dreht sich herum und tritt ohne zu zögern hinaus in die Sonne. Nicht mal ein
Zucken durchfährt ihren Leib als die leichten Strahlen der frühmorgendlichen
Wintersonne ihren Körper berühren. Wie auf Federn gleitet sie hinaus in den
Hof, während erst ihre Kleidung und kurz darauf auch ihre Haare und ihre Haut
in Flammen aufgehen. Es wirkt fast als würde sie tanzen, bevor sie nur noch zu
einem Häufchen Asche zerfällt.
Doch
Mary tröstet Viviennes würdevoller Abgang wenig. Sie kann nur weinen und sich
selbst hassen. Selbst, dass Claudia ihr zärtlicher als sie es je für möglich
gehalten hätte zuflüstert, dass alles gut werden wird, kann sie nicht davon
ablenken. Erst als plötzlich die Hintertür auffliegt und Orlando mit über dem
Kopf gehaltenem schwarzen Mantel hereingestürzt kommt, hebt sie den Kopf aus
ihrem Tränenschleier.
Verwirrt
blickt er die versammelten Vampire an.
„Du
bist zu spät!“, schreit Mary bebend vor Wut und stürmt auf ihn zu. Ihre Fäuste
donnern auf seinen Kopf nieder und schlagen in seinen Bauch ein. Schützend hält
sich Orlando die Hände über das Haupt und tritt zurück.
„Was
ist denn los? Du lebst doch noch!“
„Du
elendiger Egoist! Vivienne hat sich für sie geopfert, weil du nicht
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