Schneerose (German Edition)
der Verräter.“
„Wenn
du so genau weißt, was Kain will, warum spricht er dann durch mich und nicht
durch dich?!“
Selten
hat Mary solch einen Hass in Viviennes Augen gesehen wie in diesem Moment. Sie
spricht mit spitzer Zunge und ohne Angst, sodass nun selbst Victor die Worte
fehlen. Stolz reckt er nur seinen Kopf in die Höhe und hebt seine rechte
Augenbraue. „Tja, wollen wir mal hoffen, dass Orlando noch rechtzeitig
auftaucht, aber dafür müsste er in...“, er wirft einen Blick auf seine goldene
Taschenuhr, „...genau 5 Minuten hier sein.“
Vivienne
schluckt und ergreift erneut Marys Hand, kaum dass Victor außer Hörweite ist.
„Bitte um Vergebung. Sag, dass Orlando dich auf Grund seines Schöpferbandes zu
dir gezwungen hat ihm zu helfen.“
Mary
ist empört. „Du erwartest von mir kurz vor meinem Tod zu lügen?“
„Damit
verhinderst du deinen Tod.“
„Ich
habe mein ganzes Vampirleben lang immer nur gelogen und betrogen um an Blut zu
kommen, damit ist jetzt Schluss. Ich werde ab heute die Wahrheit sagen und wenn
ich dafür den Tod verdiene, dann soll es so sein.“, antwortet sie ihr unbeugsam.
„Sei
doch nicht so stur. Du hast noch ein langes Leben vor dir, da bleibt dir noch
genug Zeit, um aufrichtig zu sein. Heute damit anfangen zu wollen ist der
denkbar schlechteste Zeitpunkt.“
Mary
entzieht Vivienne ihre Hand und blickt ihr verletzt entgegen. „Gerade von dir
hätte ich etwas anderes erwartet. Zum ersten Mal mache ich irgendetwas richtig
und anstatt mich zu unterstützen, willst du mich dazu bringen weiter zu lügen.
Vielleicht ist es besser wenn du jetzt zurück nach oben gehst.“
„Ich
würde dich doch niemals in so einer Situation alleine lassen.“, ruft Vivienne
besorgt aus, doch ihre ausgestreckte Hand greift ins Leere. Mary dreht ihr den
Rücken zu und blickt erneut aus dem Fenster. Der Regen hat nachgelassen,
stattdessen beginnt die Morgendämmerung und erste leichte Sonnenstrahlen tanzen
über den gefrorenen Rasen.
Victor
schnalzt mit der Zunge. „Tja, ich würde mal sagen es ist Zeit.“
Die
Schlüssel rasseln im Schloss als er sie schwungvoll umdreht und die Zellentür
aufreißt. „Darf ich bitten?“
Amüsiert
streckt er ihr seinen Arm einer Tanzaufforderung gleich entgegen, doch Mary
schreitet mit erhobenem Kopf an ihm vorbei. Sie sollte vor Angst zittern, doch
stattdessen fühlt sie sich stärker als je zuvor. Von ihrer Blutsucht ist kein
Funke mehr zu spüren.
Die
Vampire haben einen Gang gebildet, der sie zu der schweren Holztür geleitet,
die in den Innenhof von Moundrell Manor führt. Victor geht ihr voran. Sobald
sie den Gang durchquert, schließen sich die Vampire hinter ihr zu einer Menge
zusammen. Viele von ihnen blicken ihr mitleidig entgegen, während andere sie
herablassend anblicken und wahrscheinlich denken, dass es ihr gerade recht
geschieht. Direkt vor der Holztür warten Vivienne und Claudia auf sie. Zu ihrer
großen Überraschung wirkt Vivienne merkwürdig gefasst, sie hätte eher mit
Tränen gerechnet. Aber auch Claudia erstaunt sie. Von ihr hätte sie am
wenigsten Mitgefühl erwartet, aber ausgerechnet sie beugt sich nun zu ihr hinab
und schließt sie für einen Moment in die Arme.
„Ich
weiß es war nicht deine Schuld. Du warst einfach nur von Anfang an zu jung.
Kinder sollten keine Vampire sein.“
Mary
ist sich nicht sicher, ob sie es nett meint oder ob es nur ein weiterer Vorwurf
ist, doch ihrem betrübten Gesicht nach zu urteilen, schließt sie letzteres aus.
„Chasity
hat dich geliebt. Für sie warst du ein Teil ihrer Familie.“
„Ich
weiß. Ich wünschte ich wäre ihr eine bessere Nichte gewesen. Sagst du ihr das,
wenn sie wieder aufwacht?“
Claudia
nickt und presst die Lippen aufeinander, wobei ihre Augen ungewohnt feucht
schimmern. Sie tritt zurück und Victor vor. Mit einer fließenden Bewegung
öffnet er die Tür, einen erschrockener Ruck und einen Raunen geht durch die
Menge. Schreiend kneifen alle die Augen vor dem Licht zusammen und treten in
den Schatten soweit es nur möglich ist. Auch Mary weicht nun ängstlich zurück.
Vorbei ist es mit ihrem Mut und ihrer Selbstsicherheit. Im Angesicht des Todes
merkt sie nun doch wie sehr sie am Leben hängt. Im Grunde hatte sie ja nicht
mal ein richtiges Leben.
„Ich
würde sagen ich wünsche dir einen guten Morgen, Mary. Wie wäre es wenn du jetzt
einen kleinen Spaziergang in der Sonne machst?“, fragt Victor triumphierend.
Claudia
verdreht genervt die Augen.
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