Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Boote drehen sich, wenn der Alkoholfluss sie aus der Tür spült. Für die meisten ist die Fahrt schon um eins zu Ende.
An der Bushaltestelle bleibt Camille stehen. Es läuft alles nach Plan. Die größeren Städte haben eben Vorteile. Die Anonymität. Und das Gewimmel. Vor dem
Riverboat
stehen fünfzig oder sechzig Jungen und Mädchen. Die Mädchen sind nervös. Oder vielleicht einfach nur wahllos? Sie stöckeln von einer Gruppe zur nächsten. Es ist ein Gewimmel ohne erkennbare Struktur. Die Vorstellung, dass keins der Mädchen, die da ziellos hin und her laufen, in der Lage ist, einen Plan so genau auszuarbeiten wie er selbst, erregt ihn. Die Distanz, seine Intelligenz und das Gewimmel.
Das Gewimmel vor dem
Riverboat
hat ihn gleich bei der ersten Observation an einen Fischschwarm oder eine aufgeschreckte Herde erinnert. Keins der Mädchen ahnt, dass er seine Wahl längst getroffen hat. Die Sache mit den unkenntlichen Schwärmen primitiver Mädchen hat allerdings einen Haken. Die Mädchen lösen etwas in ihm aus, was er sich strikt verboten hat. Vorgestern erst war er ausgestiegen und einem Mädchen gefolgt. Zum Glück war sie plötzlich in einem Hauseingang verschwunden. Er war ihr schon sehr nahe gewesen. Und er hatte sich nicht mehr in der Gewalt gehabt.
Bei Geneviève war er auch ausgestiegen, genau wie bei Isabel. Das durfte nie wieder passieren. Es ging nur um die Möglichkeit. Er konnte! Er konnte es jederzeit tun. Das musste reichen. Denn Opfer waren sie alle. Und zwar von dem Moment an, wo er sie erwählte.
Dezember
Alles ist gut, alles ist vorbei. Und doch! Sergeant Ohayon ärgert sich. Er hatte den Bericht verfasst, er hatte alles aufgeschrieben, und es war ihm trotzdem nicht aufgefallen. Diese verfluchte Sache mit dem Mond. Und jetzt ist Frau Behling nicht da, und er kann mit niemandem darüber reden.
Ohayon steht also, wie früher, allein am Fischstand. Als Roland in Spanien gewesen war, da hatte alles so gut funktioniert. Sie hatten den Fall abgeschlossen, die anderen hatten ihn als Chef anerkannt. Es war eine gute Zeit gewesen. Jetzt hatte Roland doch das letzte Wort gehabt. Woran lag das? Dass er immer nur dann wach wurde, wenn Roland weg war?
Und da ist noch etwas. Er hat Roland nicht die Wahrheit gesagt. Und der hat sich sogar noch bei ihm bedankt! Bedankt, weil Ohayon den Fall nicht abgeschlossen, den Bericht nicht der Staatsanwaltschaft übergeben hatte. Roland und Grenier waren der Meinung, Ohayon hätte das unterlassen, weil es Sache des eigentlichen Chefs sei, den Fall offiziell abzuschließen. Aber das war nicht der Grund. Sergeant Ohayon hatte andere Beweggründe, die ihn zögern ließen. Er war nämlich überhaupt nicht der Meinung, der Fall sei abgeschlossen. Eine rein gefühlsmäßige Einschätzung allerdings, die mit dem Abend zusammenhing, an dem er noch mal zum Tatort gegangen war. Aber was? Das ganze Ergebnis dieses langen Marschs und der ganzen Rumsteherei in der Kälte war nichts als ein Bild. Der Waldrand auf der anderen Seite der Lichtung. Bullshit! Trotzdem! Das Bild war immer wiedergekommen. Auch im Vernehmungsprotokollvon Kristina gab es ja diese kleine Bemerkung. Nämlich, dass sich da, am Waldrand, vielleicht etwas bewegt hatte. Aber brauchten sie diesen mysteriösen Jemand überhaupt noch? Kristina hatte präzise beschrieben, was passiert war, und Grenier hatte ihre Aussagen Punkt für Punkt verifiziert. Nun, das ist ja das Heimtückische an Eingebungen. Sie können falsch sein. Ohayon weiß das.
Ein Duft von Geräuchertem. Ein angenehmer Gedanke an Remouladensoße auf Fisch. Dazu Bratkartoffeln. Das Bild eines dampfenden, randvollen Papptellers und eines Bestecks aus Plastik. Es gibt viele Bilder in Ohayons Kopf und … Frau Behling ist nicht da. Hat Cholesterin eigentlich einen Geschmack? Ohayon ordnet sich in die Schlange vor dem Fischstand ein. Und als er wartet und zu den Müllcontainern rüberguckt, fährt ein Renault Twingo vorbei. Vor ihm in der Schlange stehen zwei Frauen und unterhalten sich über die Vorzüge von frittiertem Fisch. Die eine spricht jetzt leiser, erzählt der anderen, wie primitiv und schrecklich sie die Sitte findet, lebende Karpfen im Aquarium zu halten und sie dann mit einer Eisenstange zu erschlagen. Auch darüber hatte Frau Behling damals gesprochen. Und darüber, dass der Fischhändler aus Deutschland stammt und Freitag und Samstag auf dem Markt steht und dort Fische mit einer Eisenstange erschlägt. Ohayon sieht sich den
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