Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
hat.«
»Das war um fünf, wann warst du da?«
»Kurz vor sechs.«
»So schnell? Musstest du dich nicht erst anziehen?«
»Ist das ein Verhör?«
»Wann!«
»Ich war mit meinem Hund draußen, als der Anruf kam.«
»Wann warst du mit dem Hund draußen?«
»Einmal so gegen halb drei. Er ist krank.«
»Hast du da einen Mond gesehen?«
»Um halb drei ja. Ich hab noch gedacht, dass mein Hund eigentlich ein Wolf ist und in der Natur längst tot wäre … Na ja, da hab ich ihn jedenfalls gesehen. Den Mond. Da hat es ja auch noch nicht so doll geschneit. Aber als ich am Tatort war, da war nichts mehr zu sehen. Weil es geschneit hat. Was soll das mit dem Mond?«
»Ich möchte, dass du beim Wetteramt anrufst. Die haben bestimmt ein Wetterradar, und das zeichnen die sicher auch auf. Ich möchte wissen, wann der Himmel über dem Wald von Fleurville so bedeckt war, dass man den Mond nicht mehr sehen konnte.«
Grenier schüttelt unwillig den Kopf, auch Ohayon versteht nichts.
»Ist jetzt auf einmal der Mond wichtig, oder was?«
Roland Colbert blättert in seinem Notizbuch.
»Ich habe Madame Darlan an dem Morgen vernommen. So gegen halb sieben. Also ungefähr anderthalb Stunden, nachdem sie Geneviève gefunden und uns alarmiert hat. Ich fragte sie: ›Es war Nacht! Wie haben Sie das Mädchen gefunden?‹ Und sie sagte, nachdem sie sich noch mal über das Gegröle im Wald ausgelassen hat: ›Ich kenne meinen Garten. Außerdem hatten wir Vollmond.‹«
»Und was hat das zu bedeuten?«
»Entweder sie irrt sich, oder es war Vollmond, als sie Geneviève fand. Das würde aber heißen, dass sie sie viel frühergefunden hat. Also spätestens um halb vier. Wir haben ermittelt, dass die Tat gegen drei Uhr begangen wurde. Sie müsste uns dann die Frage beantworten, warum sie zwei Stunden gewartet hat, ehe sie bei uns anrief. Und sie müsste uns die Frage beantworten, wie ein Junge, der leicht bekleidet seit über drei Stunden im Schnee rumirrt, noch grölen kann.«
Als Roland Colbert, Ohayon und Grenier beim Haus von Madame Darlan ankommen, ist es bereits dunkel.
»Guten Abend, Madame.«
»Was wollen Sie?«
»Ich möchte mit Ihnen über den Säbel sprechen und darüber, warum Sie Geneviève Mortier das Höschen ausgezogen haben.«
Der prasselnde Kamin. Die beiden Sessel vor dem Kamin. Es hat sich nichts verändert.
»Weshalb sind Sie wirklich gekommen, Monsieur Colbert?«
»Ich bin hier, um Sie zu einem Geständnis zu bewegen.«
»Was soll ich gestehen?«
»Dass Sie Geneviève Mortier haben sterben lassen.«
»Ich habe sie nicht sterben lassen. Sie war tot, als ich sie fand.«
»Sie war bewusstlos. Schwer verletzt. Aber nicht tot. Sie hätte gerettet werden können.«
Madame Darlan erschrickt. »Sie war bestimmt tot! Sie hat nicht geatmet und ihr Kopf … das war alles wie Matsch …«
»Ihre Haare waren blutig. Da war nichts Matsch.«
»Dieser Junge hat sie erschlagen! Ich bin aufgewacht, weil ich hörte, wie er im Wald rumgrölte.«
»Er kann um fünf Uhr nicht mehr rumgegrölt haben, da war er bereits erfroren. Aber sie haben ja recht! Er hat schon rumgegrölt, als Sie Geneviève gefunden haben, und der Vollmond leuchtete Ihren Garten auch noch gut aus. Das alles stimmt. Was nicht stimmt, ist die Uhrzeit. Sie haben Geneviève viel früher gefunden.«
»Die Mädchen haben Angst vor den Jungen. Ich auch!«
»Die Mädchen fahren freiwillig mit an den Feensee.«
»Die wissen doch gar nicht, wie ihnen geschieht!«
»Ja, den Eindruck könnte man haben.«
»Und was für Jungs sind denn das! Primitive Wüstlinge!«
»Ihr Enkel war dabei.«
»Das habe ich erst hinterher erfahren. Und ich verstehe es nicht. Er geht aufs Gymnasium, er liest Bücher. Ich verstehe nicht, wer ihn zu so was angestiftet hat.«
»Sie hörten also einen Jungen im Wald rumgrölen.«
»Ja. Ich bin dann ans Fenster gegangen und habe die Mädchen am Schuppen entdeckt. Sie hielten sich im Arm. Sie hatten Angst.«
»Und Sie haben sie nicht reingebeten?«
»Nein. Dann habe ich versucht weiterzuschlafen, aber es ging nicht. Also bin ich wieder aufgestanden und vors Haus. Und da lag sie. Ich bin hin und habe gesehen, dass sie tot ist.«
»Wann war das?«
»Um kurz nach drei.«
»Da lebte sie aber noch. Sie war bewusstlos. Unser Gerichtsmediziner ist sich sicher, dass sie erst gegen vier Uhr gestorben ist.«
»Nein!«
»Statt die Polizei zu alarmieren oder etwas zu unternehmen, um sie zu retten, kamen Sie auf die Idee, dass es wie das
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