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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
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Das hatte er immer wieder gesagt. Ihre übertriebenen Schuldgefühle. Darin bestand ihre Verrücktheit. Sie hatte sogar Schuldgefühle gegen ihren Körper. Deshalb schwamm sie jeden Tag sechzig Bahnen.
    Siebenundvierzig.
    Seit vierzig Minuten schwimmt sie. Das Becken ist zwanzig Meter lang. Ihre Gedanken wiederholen sich.
    Achtundvierzig.
    Zwanzig Meter sind ein ungeheurer Luxus. In einem Privathaus. Ihr Schwimmstil ist schnell, aber ruhig. Sie ist nicht ruhig. Vor einer Stunde ist sie an der Kirche fast zusammengebrochen. Der Pfarrer hat sie weggeschickt. Und sie weiß, dass er recht hat.
    Neunundvierzig.
    Man kann nicht zum Pfarrer gehen und sagen, dass man über den Wald sprechen will. Und über eine Hexe.
    Fünfzig. Sie schwimmt weiter.
    Sie wird noch einmal zum Pfarrer gehen. Morgen vielleicht.
    Erschlagen. Das stand ja auch in der Zeitung.
    Sie schwimmt weiter.

    Das Haus, in dem Walter Heimann lebt, ist keine Perle. Höchstens eine für Bauhistoriker. Eine schlichte Doppelhaushälfte aus Holz. Es gehört zu einer Siedlung, die ursprünglich aus zweihundertzehn solcher Holzdoppelhäuser bestand. Das alles war kurz nach dem Krieg ziemlich schnell hochgezogen worden, und zu jedem Haus gehörte ein Garten von achthundert Quadratmetern. Hier wurden damals vor allem Leute angesiedelt, die schnell eine neue Bleibe brauchten. In ihren Gärten, das war die Idee, sollten die vom Krieg Entwurzelten Obst und Gemüse anbauen. Ein Gedanke, der in seiner Praktikabilität und Symbolik so klar und stimmig war, der so gut funktionierte, dass darüber in den siebziger Jahren mehrere soziologische und baupsychologische Studien angefertigt wurden, die sich leider der fabelhaften Bodenständigkeit des Grundgedankens vollständig enthoben.
    Nachdem die erste Bewohnergeneration aufgestiegen und weggezogen war, hatte man hier eine Zeit lang Sozialfälle untergebracht. Ein paar Kommunarden hatten neue Formen des Miteinanders ausprobiert und ziemlich viel Unfrieden gestiftet. In den sechziger und siebziger Jahren war also aus der eigentlich ganz hübsch angelegten Siedlung die übelste Wohngegend von Fleurville geworden. Aber das änderte sich. 1981 hatte ein Bauunternehmer der Stadt nach und nach fast alle Häuser aufgekauft, renoviert und einem wirklich durchdachten Konzept folgend mit Naturfarben veredelt. Die Holzhäuser wurden außerdem von Gutachtern neu bewertet und als ökologisch wertvoll eingestuft. Inzwischen wohnten hier Ärzte, Lehrer und höhere Beamte. Menschen mit Kindern, die einen Garten wollten, aber bitte keinen zu großen. Nur ein paar Häuser befanden sich noch im Originalzustand. Das heißt, sie waren ziemlich heruntergekommen. In diesenBruchbuden lebten größtenteils Ausländer, die aber von den Ärzten und Lehrern der Nachbarschaft toleriert wurden und dort sogar Arbeit fanden. Als Putzfrauen und Gärtner. Ein weiteres gelungenes Sozialexperiment also, das ganz ohne vorherige Studie nur auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage entstanden war. Und in einem dieser alten Holzhäuser sollte Walter Heimann leben. Das war wohl auch so. Jedenfalls stand sein Name am Klingelschild.
    Das Erste, was Conrey und Roland von Walter Heimann mitkriegen, ist seine Stimme. Er kündigt sein Kommen an. Und zwar mehrfach.
    Conrey wird ungeduldig: »Was dauert das so lange?«
    »Bleib ruhig, Conrey, vielleicht war er unter der Dusche.«
    »Um sich aufzuwärmen nach einer kalten Nacht? Was ist überhaupt mit dem Wetter los? Das frage ich mich. Ohayon hat mir von einem Film erzählt, so ein Untergangsfilm. Da fing es auch auf einmal an zu schneien. Hat dann gar nicht mehr aufgehört. Jetzt meint er, nur weil es bei uns mal am 4. November schneit, könnte das bedeuten … Ist doch irre!«
    »Ja?«
    »Ich meine, man fragt sich doch, ob da noch alles in Ordnung ist!«
    »Es hat halt geschneit. Aber ob das gleich Eiszeit bedeutet?«
    »Nein, ich meinte in Ohayons Kopf!«
    »Ob da Eiszeit ist? Meinst du das?«
    »So ungefähr.«
    Die Tür öffnet sich.
    »Entschuldigen Sie, ich … Wer sind Sie?« Roland Colberts erster Eindruck ist positiv. Walter Heimann ist ein angenehm wirkender Mann Mitte fünfzig. Ein Mann, der allerdings etwas vorsichtig ist. »Was wünschen Sie?«
    »Ich bin Kommissar Colbert, das ist Sergeant Conrey. Wir möchten mit Ihnen reden. Dürfen wir reinkommen?«
    Walter Heimann zögert. Steht in seiner Tür, die Hand am Rahmen, als wolle er ihnen den Weg versperren.
    »Weshalb müssen Sie mit mir sprechen?«
    »Es

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