Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Polizeibehörden brutaler als Deutsche?
Ja, sind sie.
Sind die Mitarbeiter der französischen Polizeibehörden mit der Charakterisierung »brutal« hinreichend beschrieben?
Als Roland Colbert vor ein paar Stunden auf dem Parkplatz am Feensee aus seinem Wagen stieg, kümmerte er sich nicht im geringsten darum, dass sein BMW hinten festsaß. Er sah nicht mal nach dem Hinterrad, nach dem Heck. Hätte ein erwachsener Mann nicht nach dem Heck sehen müssen in so einem Moment? Nichts dergleichen geschah. Er überlegte auch nicht, wie er den Wagen wieder flott bekommen könnte. Wäre das nicht wichtig? Muss ein erwachsener Mann nicht darauf achten, dass sein Wagen flott ist? Er braucht den Wagen doch später bestimmt noch. Vielleichtum jemanden zu verfolgen. Oder zu beschatten. Oder doch wenigstens, um nach Hause zu fahren! Hätte er in Anbetracht dieser Umstände nicht sein Handy rausholen und in der Zentrale anrufen müssen? Resnais, gut, dass ich dich dran habe, du kennst doch diese Werkstatt. Ruf bitte an und sag denen …
Nichts dergleichen. Kein Handy. Kein Gespräch. Als ob das Auto völlig unwichtig wäre. Aber er war einen Moment stehen geblieben. Neben seinem havarierten Wagen. Warum?
Es lag an einer sinnlichen Wahrnehmung. Roland Colbert hatte die kalte Luft eingeatmet. Durch die Nase. Und einen Moment lang geglaubt, sie röche salzig. Das Meer. Das kann nicht sein. Das Meer ist zweihundert Kilometer entfernt. Aber ist das Meer wichtig in diesem Zusammenhang? Die Wahrnehmung war so unmittelbar, dass er sie sofort mit verschiedenen Erinnerungen in Verbindung brachte. Mit Seetang zum Beispiel, mit einer Farbe, die sich nicht vom Himmel unterscheidet und mit einem halb untergegangenen Tretboot. Es war eine schöne Überraschung. Dieser Geruch. Deshalb war er einen Moment lang stehen geblieben. Kurz darauf hatte er den Geruch vergessen. Niemand kann sich an Sinneswahrnehmungen erinnern. Sie verwandeln sich sofort. In Bilder, Assoziationen, in Worte möglicherweise. Er würde später vielleicht sagen können: Ich meinte, die Luft röche salzig, und dachte einen Moment lang ans Meer und an ein Tretboot!
Das schon. Das kann bei so was rauskommen. Aber mehr auch nicht.
Es gibt gewisse Details, die bei der Aufklärung von Verbrechen eine Rolle spielen. Oder in die Irre führen. Dieses ganze Irren liegt an etwas, das so banal ist, dass man es nur zu schnell vergisst. Wir können nicht von hinten nach vorne denken! Also von der Auflösung her. Wenn das möglich wäre, wenn jemand auf die Schnapsidee käme, das zu tun, dann stünden die Ermittler, dann stünden alle Menschen da wie die Deppen! Da wären auf einmal lauter Spuren, die völligunnötig verfolgt wurden. Wenn man weiß, wie’s ausgeht, ist alles einfach. Das gilt nicht nur für Mordfälle. Das Leben hat bei allem diese Ausrichtung vom Bekannten ins Unbekannte. Das ist ein Naturgesetz und manchmal so schmerzlich, dass man die Lippen hart aufeinanderpressen möchte. Zum Beispiel beim Ausfüllen des Lottoscheins.
Die Brutalität der französischen Polizei.
Da denkt man an Sprüche wie: »Er war früher mal bei einer Spezialeinheit!«, oder: »Algerien!« Vielleicht ist das mit der Brutalität ja auch nur ein Mythos.
Die alte Polizeikantine sieht aus wie eine alte Polizeikantine, und die Geräusche sind die, die man sich in einer gut gefüllten Kantine vorstellt. Roland Colbert und Conrey essen. Ohayon isst eigentlich auch, aber im Moment nicht. Er fuchtelt mit Löffel und Gabel in der Luft herum, und da ist Soße am Besteck, und da ist Conreys weißes Hemd, und Conrey hat ihn schon drei Mal gebeten, das zu lassen, aber Ohayon hört nicht auf zu fuchteln und lacht dabei. »Wie kommst du nur auf so was, Roland? Wie kommst du auf so was? ›Ohayon, Conrey, zieht ihm die Schuhe aus!‹ Wie bist du darauf gekommen?«
»Weiß ich nicht. Keine Ahnung.«
Auch Roland Colbert ist gut gelaunt. Nur Conrey ist ernst. Dass Conrey ernst ist, hat weniger mit dem Fall oder seinem Charakter zu tun als mit der Spaghettisoße und seinem weißen Hemd. Ohayon neben ihm kriegt sich nicht mehr ein.
»Hundert Prozent! Nee, oder? Doch! Das war hundert Prozent der Spruch, um diesen arroganten Chefredakteur zu knacken. ›Ohayon, Conrey, zieht ihm die Schuhe aus!‹« Ohayon lacht Conrey mit offenem Mund an, Conrey hat Angst. »Wir hätten ihn stundenlang anschreien können, hab ich doch recht, Conrey, oder? Da hätte er nur seinen Anwalt geholt, der Herr Chefredakteur. Aber die
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