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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
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Heimann. Der heißen Spur. Conrey traut man analytische Gedanken zu. Ihm nicht. Dabei ist Ohayon vom Rang her der zweite, nach Roland Colbert. Wegen der Jahre … Ganz klar. Es ist eine Verweigerung. Ohayon soll Genevièves Mutter aufsuchen und geht ins Bistro.
    Warum?
    Ohayon ist gekränkt. Dabei hat er doch schon zwei Mal bewiesen, dass er auch anders kann. Ist aber schon lange her. Zwei Mal war der Kommissar plötzlich ausgefallen und er, Ohayon, hatte bewiesen … Ist aber schon lange her. Ohayon betrachtet die Linien der Tischdecke und versucht, sich zu konzentrieren. Er bemüht sich, den Fall und alles, was sie bisher wissen, vor sich auszubreiten. Neue Schlussfolgerungen zu ziehen.
    Es gelingt ihm nicht.
    Er ist nicht in der Lage, auch nur drei Thesen vor sich auszubreiten und zueinander in Beziehung zu setzen. Immer gehen die Gedanken woanders hin. Ich müsste das schriftlich machen. Wie damals. Ich müsste mir alles aufschreiben und die Zettel an die Wand pinnen. Aber er hat es nie wieder geschafft, einen Fall im Alleingang zu lösen. Zwei Mal schon! Als Roland Colbert ausgefallen war. Ohayon gibt auf. Er zahlt. Er hat jetzt einen schwierigen Auftrag.

    Das Gebäude ist riesig. Es ist nicht riesig. Es wirkt riesig. Das Gebäude könnte zweihundert Jahre alt sein. Ein ehemaliges Kloster. Daher der Eindruck, es sei riesig.
    Die Gänge sind lang. Den Gängen sieht man das Krankenhaus mehr an als dem Gebäude. Tuberkulose. Syphilis. Pocken. Alte Krankheiten. Überall religiöse Symbole. Das Kreuz. Maria. Blumen in engen Vasen. Ein Geruch zum Sterben. Die Fensterbrüstungen sind so hoch, dass man nicht hinaussehen kann, und die Schwestern sehen aus wie Nonnen. Es sind Nonnen. Der Arzt ist ruhig. Jung. Weltlich. Frisch wirkt er mit seinen vierzig Jahren. In dieser Umgebung.
    »Aber wir wurden angerufen, dass hier ein Junge liegt, der … Es geht um den Mord am Feensee. Sie haben davon gelesen?«
    »Natürlich. Deshalb hat Professor Galinski mich ja auch gebeten, Sie sofort anzurufen, aber … Sie können im Moment nicht zu dem Jungen. Er ist nicht bei Bewusstsein.« Der Arzt zögert. »Es gab Komplikationen.«
    Roland Colbert spricht allein mit dem Arzt, die Wände sind gelb, sie stehen im Gang.
    »Es ist wichtig für uns, ihn zu befragen. War er irgendwann bei Bewusstsein? Wissen Sie, wie er heißt?«
    »Sie sprechen am besten mit der Schwester. Die war bei ihm. Kommen Sie.«
    Der Arzt dreht sich um, Roland Colbert folgt ihm. Vorder Leichenhalle biegen sie ab. Ein neuer Gang, altes Linoleum.
    Die Tür öffnet er ihm noch. Dann verlässt ihn der Arzt.
    Der Raum ist nicht ganz so groß, wie Roland Colbert vermutet hätte. Vielleicht fünfzig Quadratmeter. Seine Funktion ist nicht zu erraten. Vielleicht finden hier Bestrafungen statt oder Verhöre, oder es ist keinem eingefallen in den letzten zweihundert Jahren, was man mit diesem Raum machen könnte. Außer, zwei Stühle reinzustellen. Nur die, keinen Tisch. Die Wände sind weiß. Gekalkt, schmucklos bis auf ein kleines Kreuz. Auch hier sitzen die Fenster unerhört hoch. Das Licht der Sonne, die schrägen Strahlen. Eine scharf begrenzte Geometrie. Der Rest ist Schatten. Und dort im Dunkeln, auf einem Stuhl, den Rembrandt als alt bezeichnet hätte, sitzt eine Frau. Klein, schlicht in ihrer Tracht. Sie ist sechzig, vielleicht älter. Roland Colbert setzt sich ohne Aufforderung. Sie würde ihn nicht auffordern. Eine Aufforderung zum Setzen liegt nicht im Bereich ihrer Kompetenz. Er fragt, wann der Junge eingeliefert wurde.
    »Um kurz vor fünf.«
    »Von wem?«
    »Vom König.«
    »Von wem?«
    »Vom König.«
    »Dieser ›König‹ wird doch wohl einen richtigen Namen haben.«
    »Er bringt manchmal die Mädchen.«
    »Welche Mädchen?«
    Sie schweigt.
    »Wer ist dieser König, der die Mädchen bringt? Ein Sozialarbeiter?«
    »Er bringt sie nur her.«
    »Und Sie wissen nicht, wie er heißt?«
    »Nein.«
    »Müssten Sie das nicht wissen?«
    »Professor Galinski sagt, es ist in Ordnung. Er gibt die Anordnungen. Der Junge war stark unterkühlt. Wir haben ihnversorgt. Er ist eingeschlafen. Es war alles in Ordnung.« Sie hört auf zu sprechen. Blickt zur Wand. Dorthin, wo das Kreuz hängt. »Ich war bei ihm, als er aufwachte. Er war sehr unruhig. Er fing an zu reden. Ich habe gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Sie verstehen?«
    »Ja, Schwester.«
    Die vertraute Anrede bewirkt, dass sie den Kopf senkt. Als sie ihn wieder hebt, schimmern ihre Augen.
    Die hat bestimmt schon

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