Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Bildschirmschoner hatte ihn daran erinnert.
Auch jetzt sitzt Marie Grenier vor ihrem Computer und durchforscht, was man im Internet eben so durchforschen kann. Bei ihr sind es Autos. Autos mit einer großen Spurweite und schmalen Reifen.
Dann wird sie unterbrochen. Conrey kommt herein und sagt, dass sie sich Walter Heimanns Mercedes ansehen soll. Grenier fragt, wie alt der Mercedes ist.
»Fünfunddreißig Jahre, hat Heimann gesagt.«
Grenier bricht sofort auf.
Genevièves Mutter weiß es noch nicht.
Als Ohayon sie fragt, ob er reinkommen darf, als sie im Wohnzimmer stehen, sie weiß es noch nicht, als sie fragt, worum es geht …
Sie meint, dass Geneviève bei ihrer Freundin ist.
Natürlich ist der erste Moment schlimm. Der erste Moment ist keine Trauer, sondern ein Schock. Ein Sturz.
Ohayon hat keine Chance. Wie soll er eine Chance haben, ihr Leid zu mildern, in diesem schlimmsten Moment ihres Lebens? Ihre Abwehr, ihren Hass auf ihn, der die Nachricht überbringt. Wie soll er das schaffen?
Ohayon findet einen Weg.
Er hält sie. Nicht, indem er sie die ganze Zeit festhält, obwohl auch das eine Weile nötig ist. Ohayon kann so was. Diese schrecklichen Situationen meistert er. Er murmelt. Leise und ohne Unterbrechung murmelt er sie an. Er ist sehr nahe bei ihr. Und er bewegt sie. Er hält sie und zieht sie ein Stück weg vom Abgrund. Am Ende hat er sie zu einem Gedanken bugsiert, an den sie sich in den nächsten Wochen klammern wird. Bestrafung. Der Wunsch nach Bestrafung ist unglaublich schnell da. Ersetzt sofort einen Teil der Trauer. Und mündet in einen Auftrag.
»Ihr müsst mir versprechen, dass ihr herausfindet, wer es war!«
Ohayon nickt.
»Und ihr müsst mir versprechen, dass er büßen wird!«
Ohayon verspricht es ihr.
Er will gehen. Gerade schon gehen. Da fällt ihm sein Auftrag ein.
»Wollte Geneviève eigentlich allein in die Discothek? Oder hat sie sich vorher mit einem Freund getroffen? Einem Max zum Beispiel oder einem Philippe?«
»Max und Philippe? Nein, die kenne ich nicht. Aber Geneviève wollte sich vorher mit Kristina treffen und da auch übernachten.«
»Wie heißt Kristina mit Nachnamen?«
»Stühler.«
Genevièves Mutter sagt Ohayon, wo Kristina Stühler wohnt. Das schafft sie, weil es mit ihrem Auftrag zusammenhängt: Ihr müsst mir versprechen, dass ihr herausfindet, wer es war!
Die unerhörte Verlangsamung trotz aller Dringlichkeit ist durchaus zu ertragen.
Marie Grenier liegt unter dem Mercedes von Walter Heimann und kratzt Dreck vom Unterboden in ein enges Glasröhrchen. Sie denkt nur an eins: So viele Krümel wie möglich ins Glas.
Conrey überbringt Philippe Nimiers Eltern telefonisch die Nachricht, dass ihr Sohn letzte Nacht im Wald von Fleurville erfroren ist. Er fragt nach Namen von Freunden. Er bedient das widerspenstige Faxgerät. Er tut, was zu tun ist.
Roland Colbert ist auf dem Rückweg zum Kommissariat. Es fahren keine Autos. Es ist still in der Stadt.
Resnais sitzt am Telefon, bereit, Hinweise entgegenzunehmen. Das Fenster. Sein Blick. Es schneit.
Ohayon ist auf dem Weg zu Kristina Stühler. Es schneit und hört nicht mehr auf.
Sie tun alle etwas Sinnvolles. Es liegt nicht an ihnen, dass es so langsam geht. Es liegt auch nicht am Schnee. Es liegt daran, dass sie zu wenig Informationen haben. Schnelle Autofahrten, parallele Handlungen, geschriene Befehle, das wäre ihnen sicher lieber gewesen.
Wirklich?
Natürlich hat das, was man als professionelles Vorgehen bezeichnet, manchmal etwas von einer Lähmung. Einer unerträglichen Verzögerung. Keine Frage. Aber das sind sie gewohnt. Sie wissen, dass die Beschleunigung, die unerhörte Befriedigung, die Erregung, dass das immer aus diesem Zustand der Lähmung heraus kommt. Und so trägt die Verzögerung eben doch genau das in sich, auf das sie alle warten. Es kann jeden Moment soweit sein. Die Lähmung nährt dieHoffnung. Sie ist notwendig. Sie ist das Feuer. Wer sich in diesem Punkt täuscht, hat Schwierigkeiten. Nicht nur bei Kriminalfällen.
Das Haus ist grün, aber nicht auffällig. Drei Stufen, oben ein kleiner Absatz. Die Tür ist braun. Alt. Groß.
»Bist du Kristina Stühler?«
»Ja.«
»Ich bin Sergeant Ohayon.«
»Ja?«
»Ich komme wegen Geneviève.«
»Was ist mit der?«
»Hast du keine Zeitung gelesen?«
»Nein.«
Eine kleine Verzögerung.
»Geneviève ist tot, Kristina.«
Das Mädchen zeigt nicht viel Veränderung. Äußerlich. Kristina steht immer noch in der Tür. Aber als
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