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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
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Visionen gehabt, und sie ist viel älter als sechzig.
    »›Wo sind die anderen? Der König muss kommen und sie holen!‹ So hat er geredet. Sie verstehen?«
    »Hat er Namen genannt?«
    »Philippe und Max.« Sie überlegt. Wiederholt die Namen. Ist sich sicher. Sie schüttelt den Kopf. Dann nickt sie. »Später fragte er nach Geneviève. ›Wo ist Geneviève? Jemand muss sie holen!‹« Sie atmet, als würde sie fühlen, was der Junge fühlte. »Er sagte noch etwas.«
    Sie verrät es noch nicht, blickt erst zum Kreuz.
    »Was sagte er?«
    Sie quält sich.
    »›Philippe, bau keinen Scheiß!‹« Sie lächelt klein, blickt wieder zum Kreuz. Hört auf zu lächeln. »Ich habe den Arzt geholt und … wir hätten ihn fast verloren. Er hat sich erbrochen, als ich draußen war. Er bekam keine Luft mehr. Wir haben ihn aber stabilisiert. Zuletzt hatte er gefragt, wo der König ist.«
    »Der König, der die Mädchen bringt.«
    »Ja.«
    »Danke. Bringen Sie mich jetzt bitte zu Professor Galinski. Irgendwer wird doch wohl wissen, wer dieser König ist.«
    »Der Professor operiert.«
    »Wie lange?«
    »Bis heute Abend. Ein Tumor im Kopf einer Schwester.«
    Roland Colbert blickt zum Kreuz. Die Schwester auch. So sitzen sie ein Weilchen. Roland Colbert im Licht, die Schwester im Schatten.
    »Das hier ist kein staatliches Krankenhaus, oder? Wem unterstehen Sie?« Die Schwester blickt weiter zum Kreuz. Sagt nichts. »Werden hier Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen?«
    Die Augen der Schwester. Feuchtes, blaugraues Glas. Rot umrandet, mit Lidern, die sich nun zum ersten Mal richtig öffnen. Die Schwester sagt Dinge, die widersprüchlich klingen. Dinge, die die Gesellschaft betreffen, ihren Orden und Regeln. Roland Colbert hat nicht den Eindruck, dass er getäuscht werden soll. Er hat den Eindruck, dass die Schwester versucht, etwas zu rechtfertigen, das für sie so quälend und widersprüchlich ist, dass sie nur in Form eines Ausbruchs darüber reden kann. Roland Colbert weiß, dass er diese Widersprüche nicht durchdringen wird. Er wartet, bis die Schwester sich wieder in der Gewalt hat.
    »Sind die Sachen des Jungen untersucht worden?«
    »Nein.«
    »Dann möchte ich Sie bitten, mir die Sachen zu bringen.«
    »Er war ziemlich betrunken. Das konnte man riechen.« Wieder lächelt sie. Klein, aber voller Freude. Wenigstens voller Verständnis. Findet sie es gut, dass Minderjährige bis zur Bewusstlosigkeit trinken? Dann korrigiert sie sich: »Wir hätten besser auf ihn aufpassen sollen. Aber wir waren in Gedanken bei der Schwester, die Professor Galinski operieren musste.«
    Die Schwester nickt kurz und verlässt dann den Raum. Roland Colbert geht zu dem Kreuz an der Wand. Er staunt, wie klein es ist und wie primitiv gemacht. Er führt zwei Telefonate. Als erstes informiert er die Zentrale und sagt, dass ein neuer Name aufgetaucht ist. Max. Dass der Wald also weiter durchsucht werden soll. Danach ruft er Ohayon an. Zum Glück ist der noch nicht bei Genevièves Mutter. Er erteilt ihm den Auftrag, die Mutter zu fragen, ob Geneviève jemanden kannte, der Max heißt.

    Keine Zeit.
    Marie Grenier. Spurensicherung. Einunddreißig Jahre. Seit vier Jahren dabei. Alle nennen sie Grenier, was wie der Name eines alten Mannes klingt. Dabei sieht sie überhaupt nicht unweiblich aus. Ein bisschen nach großer Stadt sogar. Ein bisschen modern. Ein bisschen nach Mädchen. Mit ihren schwarz gefärbten schulterlangen Haaren, ihrem sehr gerade geschnittenen Pony. Burschikos gekleidet. Immer Hosen mit vielen Taschen.
    Roland Colbert macht sich manchmal Sorgen um sie.
    Neulich kam er in ihr Büro, um sie etwas zu fragen. Sie war eingeschlafen. Lag mit ihrem Oberkörper auf dem Tisch direkt vor dem Bildschirm. Der Computer lief, zeigte aber nur einen Bildschirmschoner. Was der Kommissar sah, gefiel ihm nicht. Auf dem schwarzen Bildschirm erschien plötzlich eine knallrote, siebenstellige Zahl, begann herumzuwandern und teilte sich dann. Die beiden Teilzahlen schienen einer Rechenoperation zu gehorchen, wurden immer größer und teilten sich dann wieder. Das ging immer schneller, so lange, bis hinter Greniers Kopf alles voller Zahlen war. Zuletzt war der ganze Bildschirm rot. Dann erschien eine schwarze Zahl. Da spätestens war ihm klar, dass er mit Grenier reden musste. Nicht über die Arbeit, sondern über sie. Es war ihm schon seit einiger Zeit aufgefallen, dass sie sich immer öfter in einer nur ihr selbst bekannten Präzision verlor. Der

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