Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Ohayon seine nächste Frage stellt, antwortet sie nicht. Er muss zwei Mal nachfragen, ehe sie reagiert.
»Du wusstest es noch nicht?«
»Was ist passiert?«
»Wir haben deine Freundin auf der anderen Seite vom Feensee gefunden. In der Nähe ist das Haus von Madame Darlan.«
»Die mit den Kaninchen?«
»Kennst du Madame Darlan?«
»Geneviève hat mir davon erzählt. Die hat Kaninchen, die Madame Darlan.« Kristina spricht langsam, fast mechanisch. Ohayon sieht, dass sie zittert. »Und warum ist sie tot? Was ist da passiert? Hat ihr jemand was getan?«
»Geneviève wurde erschlagen. Wollen wir reingehen? Möchtest du dich setzen?«
Kristina nickt, und sie gehen ins Wohnzimmer. Ohayon fühlt sich unwohl. Er kennt sich nicht aus mit Mädchen. Er sieht sich die Einrichtung an. Ein Sofa, zwei bequeme Sessel,ein Couchtisch, ein Regal. Da ist nichts, was einem ins Auge fällt. Außer vielleicht drei alten Schwarzweißfotos, auf denen Männer neben toten Tieren stehen. Großen Tieren. Die Szene spielt offenbar in Afrika, denn um die Männer herum stehen Schwarze in traditioneller Kleidung. Auf dem ersten Bild gucken die beiden Weißen den Betrachter an, auf dem zweiten streiten sie miteinander, auf dem dritten schießt der eine den anderen tot. Man kann nicht sagen, ob die Bilder gestellt sind oder ob der Fotograf Zeuge eines Mordes war. Das wäre dann aber ein gewaltiger Zufall. Nein, die Bilder sollen irgendwas ausdrücken. Unter den Bildern steht etwas, das Ohayon nicht lesen kann.
»Die Fotos sind von meinem Großvater.«
»Und was steht da drunter?«
»Das weiß keiner. Wir wissen nicht mal, was für eine Sprache das ist.«
»Verstehe.«
Ohayon wüsste natürlich gerne, was da vorgefallen ist, aber er reißt sich zusammen und sucht das Zimmer nach weiteren Hinweisen ab. Hinweise worauf? Da ist nichts. Nur die Reproduktionen von vier Gemälden gleichen Formats. Köpfe von berühmten Leuten! Ohayon sieht sich die Bilder interessiert an.
»Beethoven, Bach, Strauss und Mozart«, erklärt Kristina, und Ohayon nickt mit dem Kopf. »Mein Vater hört gerne klassische Musik.«
Ohayon nickt weiter mit dem Kopf, als sei alles klar, allerdings hätte er keinen der Komponisten erkannt. Irgendetwas an diesen Bildern kommt Ohayon unstimmig vor. Berühmte Komponisten. Was soll da nicht stimmen? Er konzentriert sich wieder auf den Fall und auf Kristina.
»Wart ihr gut befreundet? Du und Geneviève.«
Kristina nickt. Ohayon sieht, wie sie immer kleiner wird in ihrem Sofa. Er überlegt, ob er ihr den Vorschlag machen darf, einen Cognac zu trinken.
»Geneviève war gestern Abend hier. Sie wollte ins
Chaise Longue
, das ist die Discothek.«
»Wann war das?«
»Sie war um neun hier, und wir haben geredet, und sie hat mir erzählt, dass sie was Neues angefangen hat. Ein Bild, in dem ganz viel Silber vorkommt. Dann ist sie los.«
»Wann?«
»Weiß nicht genau. Um elf vielleicht.«
»23 Uhr.«
»Ja.«
»Und du?«
»Ich bin hier geblieben. Ich gehe nicht in die Disco.«
»Hat Geneviève versucht, dich zu überreden mitzukommen?«
»Sie weiß, dass ich nicht hingehe.«
»Warum nicht?«
»Ich mag die Jungs da nicht. Ich sehe auch nicht so gut aus.«
Ohayon verkneift sich, ihr zu sagen, dass er das eigentlich nicht findet. »Hat sie dir gesagt, ob sie sich da mit jemandem treffen wollte?«
»Nein.«
»Kennst du ihre Freunde?«
»Ja.«
»Hat sie gesagt, dass sie in der Disco jemanden trifft, der Max oder Philippe heißt?«
»Da haben wir nicht drüber gesprochen. Hat Philippe ihr was getan?«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil er schon öfter Mädchen geschlagen hat. Er ist brutal. Hat er sie getötet?«
»Das wissen wir noch nicht.«
»Könnte ich mir vorstellen.«
»Dass Philippe es war.«
»Ja.«
»Hatte Geneviève einen festen Freund?«
»Nein. Hat sie mir jedenfalls nicht gesagt.«
»Ihr wart gut befreundet, oder?«
»Ja. Müssen Sie noch lange hier sein?«
»Warum fragst du?«
»Weil ich nicht weinen möchte, wenn Sie da sind.«
»Gut, Kristina, ich gehe jetzt. Wenn dir noch was einfällt, kannst du mich anrufen. Hier steht meine Nummer drauf.«
Ohayon geht. Kristina bringt ihn nicht zur Tür. Sie bleibt auf dem Sofa sitzen und hält es noch ein Weilchen aus. Dann kippt sie langsam auf die Seite und krümmt sich zusammen.
Marie Grenier ist fertig mit ihrer Arbeit, als Roland Colbert um 17 Uhr ihr Zimmer betritt. Er nimmt Platz, sie fängt sofort an. »Das Einfache zuerst. Auf dem Säbel sind
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