Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
mehr reden, bei der ist das irgendwie nach innen gegangen.«
Roland Colbert macht ein paar unerklärliche Bewegungen mit seinen fest aufeinandergepressten Lippen, steht auf, geht an einen anderen Tisch und betrachtet ein Glas, das dort steht. »Was sagt Kristina?«
»Geneviève ist um 21 Uhr bei ihr angekommen, und dann haben sie bis ungefähr 23 Uhr geredet. Über Bilder und …«
Eine schnelle Bewegung. »Scheiße!« Roland Colbert hat aus Versehen das Glas vom Tisch geschleudert, die Splitter springen meterweit über den Boden. »Scheiße ist das!« Er brüllt so laut, dass Köpfe sich drehen. »Ein Teenager!«
So auszurasten! Das passt überhaupt nicht zu ihm. Trotzdem erklärt der Kommissar weder jetzt noch später, was ihn zu diesem Ausbruch veranlasst hat, warum es ausgerechnet hier in der Kantine soweit war. Es verlangt auch keiner eine Erklärung. Statt etwas zu sagen, geht er ein paar Meter. Und zwar noch so mitgenommen, dass er schwankt. Er bleibt stehen, führt seine Hand zur Stirn, berührt sie kurz mit vier Fingern, lässt die Hand runterschnellen. Steht noch einen Moment, sammelt sich und kehrt dann zurück. Alle in der Kantine haben diesen sinnlosen Gang, diese noch sinnlosere Bewegung der Hand verfolgt. Und jeder versteht den Grund. Auch die, die selbst noch nie so gegangen, noch nie so eine Bewegung gemacht, noch nie so gebrüllt haben. Alle verstehen ganz genau. Alle, bis auf eine junge Algerierin. Die holt Schippe und Besen. Dass sie das tut, ist richtig. Denn nicht alle Regeln sind außer Kraft gesetzt, wenn sich jemand vergisst und ein Glas vom Tisch fegt. Man kann den Ausbruch akzeptieren. Natürlich. Aber Glasscherben auf dem Boden, das geht nicht. Die Ordnung muss wiederhergestellt werden. Und zwar möglichst ohne viel Aufsehen. Die Haltung der jungen Algerierin ist also alles andere als eine Nebensächlichkeit. Im Gegenteil. Von allem, was im Moment in der Kantine gedacht und getan wird, repräsentiert einzig ihr Gang zum Abstellraum den Gedanken, auf dem dieExistenz dieser Kantine, die Existenz aller französischen Polizeistationen beruht.
Ohayon gießt sein Glas noch mal voll.
Die ungeheuer langsame Art, wie er das genau vor den Augen des Kommissars tut, beunruhigt Grenier. Sie befürchtet einen erneuten Ausbruch. Der findet aber nicht statt. Im Gegenteil. Roland Colbert versteht, was die Geste ihm sagen soll. Statt erneut rumzubrüllen, setzt er sich auf den Stuhl neben Ohayon und legt ihm die Hand auf die Schulter. Grenier presst die Lippen aufeinander und betrachtet einen Abschnitt der Fußleiste.
»Also, wie hat Genevièves Mutter es aufgenommen?«
»Interessiert dich das plötzlich?« Ein Blick. Eine kleine Pause. Ohayon ist sauer, weil immer er die schlechten Nachrichten überbringen muss. »Geweint hat sie und musste sich setzen.«
»Du hast mit ihr geredet und sie ein bisschen getröstet.«
»Ich bin lange da gewesen und hab sie auch festgehalten und so. Mit ihr geredet.«
»Und wie ging es ihr, als du weg bist?«
»Sie will, dass wir ihn schnappen und dass er bestraft wird.«
»Gut. Gut gemacht.«
»Hm.«
»Wie lange ist Geneviève bei ihrer Freundin geblieben?«
»Kristina sagt, Geneviève ist um 23 Uhr weg, ins
Chaise Longue
. Kristina ist nicht mitgegangen, die macht sich nichts aus der Disco, die Jungs gefallen ihr nicht, und sie meint, sie sei hässlich. Aber als ich nach Philippe und Max gefragt habe, da wollte sie wissen, ob Philippe Geneviève was getan hat. Das kam sofort.«
Roland Colbert gibt durch nichts zu erkennen, was er von Ohayons Bericht hält. Er atmet nur einmal tief durch.
»Das
Chaise Longue
. Wann machen die auf?«
»Acht oder neun, würde ich sagen.«
»Also acht Uhr. Sag Conrey Bescheid.«
Kommissar Roland Colbert steht auf, will die Kantine verlassen. Aber Ohayon hält ihn am Arm fest, zieht ihn mit einer erstaunlich kraftvollen Bewegung dicht zu sich ran und spricht dann ganz leise. »Du. Bist. Ein. Arschloch.«
Männergeplänkel. Eine Art, sich seine Zuneigung zu zeigen.
Roland scheint diese Bemerkung also vollkommen zu akzeptieren. Grenier nicht. Sie steht auf und verlässt ohne ein weiteres Wort die Kantine. Sie hat eine tiefe Abneigung gegen unkontrollierte Ausbrüche. Und solche seltsamen Bündnisse zwischen Männern mag sie schon gar nicht.
Selbst ausgesprochen schwierige Situationen sind zu bewältigen. Solange man nur bei klarem Verstand bleibt. Er hat Glück. Einen klaren Verstand zu haben war schon immer seine Stärke.
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