Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Und das Schlimmste ist ja offenbar überstanden.
Er hat mal gelesen, dass der erste Tag entscheidend ist. Und sie sind nicht gekommen, haben keine Spur. Jedenfalls keine, die zu ihm führt. Das Wasser kocht, er tut die Spaghetti rein. Nicht zu weich, nicht zu hart! Danach probiert er die Soße. Wenn er seinen Kopf nach rechts dreht, kann er seine Frau und seine Tochter sehen. Sie sind im Wohnzimmer und spielen ein ziemlich kompliziertes Spiel. Für eine Sechsjährige ist seine Tochter wirklich sehr gut. Er weiß, dass seine Frau ängstlich auf jedes Anzeichen von vorhandener oder nicht vorhandener Intelligenz bei ihrer Tochter achtet. Und es sieht ganz so aus, als wäre seine Intelligenz auf die Tochter übergegangen. Er stellt den Durchschlag in die Spüle, um die Spaghetti schnell abzugießen, wenn sie soweit sind. Die Soße ist auch gleich fertig. Er probiert noch mal und gibt etwas von den frischen Kräutern dazu. Er, seine Frau, sein Kind. Und der Mann steht am Herd! Er findet das völlig in Ordnung. Er liebt es, für seine Familie zu kochen, sich mit Kräutern und gutem Gewürzsalz zu beschäftigen. Sogar aufdie Kalorien achtet er neuerdings. Ja! Alles hat sich so geregelt, wie es besser nicht hätte kommen können. Er ist wieder vollkommen stabil. Und so wäre tatsächlich alles in Ordnung.
Ein Tropfen spritzt auf, triff ihn an der Hand. Ein scharfer Schmerz. Alles wäre in Ordnung! Wenn ich nicht diesen Fehler gemacht hätte! Er reibt sich über den Handrücken. Mein Notfallplan war ein Fehler, ich hätte nie bei der Zeitung anrufen dürfen!
Er nimmt den Topf, gießt die Spaghetti hastig ab. Auch dabei tut er sich weh. Scheiße!
Während die Spaghetti abtropfen, schaut er hinaus. Es ist längst dunkel. Es schneit immer noch. Er weiß jetzt: Etwas muss geschehen!
An der Tür des
Chaise Longue
gibt es Schwierigkeiten. Der Türsteher spielt sich auf und will Conrey und Ohayon nicht reinlassen. Natürlich haben sie ihre Ausweise vorgezeigt, aber der Türsteher bleibt stur.
Als Roland Colbert dazukommt, hat sich schon eine Traube gebildet. Der Türsteher hat alle auf seiner Seite und genießt es. Am Rand der Traube werden Neuankömmlinge über den ungeheuerlichen Vorgang informiert.
»Die Bullen wollen eine Razzia machen!«
»Quatsch! Die Bullen wollen nur ein paar Fragen stellen!«
Das hat Ohayon schon fünf Mal erklärt. Er hat auch erklärt, dass er mal jung war und dass er alles versteht und dass er damals auch was gegen Bullen hatte. Das Gelächter ist enorm.
Roland Colbert erreicht den Rand der Traube.
»Platz machen!«
Die Jugendlichen machen Platz. Roland Colbert erreicht die Tür, nickt dem Türsteher kurz zu und betritt das
Chaise Longue
. Die Sergeanten folgen ihm. Draußen entsteht ein Tumult. Alle wollen rein. Der Türsteher pflanzt sich vor seiner Tür auf und erklärt dem Volk, was Sache ist.
»Da drin findet eine polizeiliche Ermittlung statt, ihr geht erst rein, wenn man euch ruft.«
Wie sieht eine Dorfdisco aus? Es gibt einen langen Tresen und der Rest des Raums ist dunkel. Der Barkeeper ist ruhig und kooperativ. Er weiß nichts. Fünfzig Jugendliche sind da. Roland Colbert hält eine kleine Ansprache.
»Seid mal ruhig, bitte!« Ein Schwall. Alle reden durcheinander, beruhigen sich dann. »Danke. Ich bin Kommissar Colbert. Die meisten von euch können sich denken, warum wir hier sind. Stand ja in der Zeitung. Am Feensee wurde ein Mädchen erschlagen. Sie heißt Geneviève Mortier …« Wieder muss er warten, bis sich alle beruhigt haben. »Es gibt noch ein weiteres Opfer. Einen toten Jungen. Er heißt Philippe Nimier …« Zwei Mädchen schreien auf, was folgt, ist keine Unruhe mehr, sondern ein Tumult. Es dauert, bis Roland Colbert weitersprechen kann. »Außerdem suchen wir jemanden, der Max heißt, und ich möchte wissen, ob jemand von euch gestern Abend hier war und gesehen hat, was Geneviève gemacht hat und mit wem sie weggegangen ist. Sergeant Ohayon, Sergeant Conrey und ich werden eure Aussagen aufnehmen.« Dreißig der fünfzig Jugendlichen stürmen auf ihn zu. Schon den ersten aufgeregten Äußerungen kann er entnehmen, dass sie alle Geneviève, Philippe und Max kannten. »Bitte nicht alle gleichzeitig! Fang du mal an. Wie heißt du?«
»Selina.«
»Es geht um gestern Abend, um die Zeit …«
»Ja, ich weiß, als Geneviève mit den Jungs abgezogen ist. Das war so. Sie hat getanzt, und Philippe hat sie angebaggert. Das macht er mit allen so, und sie hat sich drauf
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