Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
Vom Netzwerk:
zweiten Anlauf geschafft. Das Abitur. Und eigentlich hatte er es nicht verdient. Das hatte er schon damals begriffen. Dass er den Abschluss noch schaffte, hatte etwas mit seiner Mutter zu tun. Die war Putzfrau. Es gab eine bestimmte politische Idee damals. Bei den Sozialisten. Ihr Sohn musste es schaffen, wenn sie sich schon getraut hatte, ihn aufs Gymnasium zu schicken. Es war ein »politisches Abitur«. Seine Mutter hatte versucht, sein Selbstbewusstsein wieder aufzubauen: Es sind nicht alle gleich. Du hast andere Stärken. Er hatte eine gute Mutter gehabt. Dafür keinenVater. Aber daran, dass er keinen Vater hatte, lag es nicht. Dabei wäre das gerade für ihn wichtig gewesen, ein sauberes Abitur hinzulegen. Er war klein. Dick. Wäre es da nicht gerecht, wenn er wenigstens intelligent wäre? Ja, und so war das rote Backsteingebäude seine ewige Peinlichkeit geblieben.
    Mein verdammtes sozialistisches, politisches Mogelabitur …!
    Es hat eben jeder Mensch seine eigenen Probleme. Immer, wenn er am Gymnasium vorbeifährt, erinnert er sich daran. Es sind nicht alle gleich. Manchmal ist es so schlimm, dass er sich sogar für sein Auto schämt. Seinen Achtzylinder. Er wollte das Gebäude nie wieder betreten.
    Heute musste er. Roland hat ihm und Conrey den Auftrag gegeben, in Genevièves Klasse zu fragen. Conrey hatte sicher kein Problem mit dem Gymnasium. Der schämt sich bestimmt nicht! Nein, Conrey ist gefestigt. Conrey hat auch nie das Bedürfnis, darüber zu sprechen, wenn er etwas nicht schafft. Dabei ist Conrey nur drei Jahre jünger als er.
    Heute ist Ohayon also das erste Mal seit damals wieder hier. Im Gymnasium. Sie haben als Erstes einen Termin mit dem Direktor. Der verdammte Schnee! Sie sind zu spät gekommen. Wieder im Gymnasium, und er ist zu spät.
    Der Direktor lacht. »Heute sind fast alle zu spät!«
    So einfach ist das. Für die anderen. Conrey ist sachlich. Er redet mit dem Direktor, als ob er dazugehört, und der Direktor nimmt ihn ernst. Wieder wird Ohayon ernst genommen in diesem Gebäude, und wieder verdankt er das einer Institution. Damals war es seine Mutter, heute ist es die Polizei. Sie dürfen mit den Schülern sprechen und mit den Lehrern. Conrey redet. Conrey befragt die Schüler und die Lehrer. Ohayon steht nur rum. Ohayon weiß, dass er von allen hier den niedrigsten Intelligenzquotienten hat.
    Die Aussagen der Schüler und Lehrer decken sich mit denen aus der Discothek. Thomas und Max bekommen gute Noten. Die, die sich noch an Philippe erinnern, halten ihn für gefährlich.
    Nachdem Ohayon und Conrey das rote Backsteingebäude verlassen haben, gehen sie noch ein paar Schritte, dann bleibt Conrey stehen. Als wäre er stecken geblieben im Schnee. Ohayon dreht sich um.
    »Ist was, Conrey?«
    »Diese Scheißschule. Warum macht mir das nach so langer Zeit immer noch so viel aus, da reinzugehen? Nur weil ich damals mein Abitur kaum geschafft habe! So was hängt einem an, oder? Ein Leben lang. Ich konnte gar nicht reden. Hat man gemerkt, oder?«
    Sie sehen sich an. Sie müssten eigentlich so etwas wie ein Klassenbewusstsein der Erniedrigten entwickeln. Hier vor dem verfluchten roten Backstein, der alle zu Würmern macht, der Menschen noch Jahrzehnte später davon träumen lässt, was sie nicht geschafft haben. Von schlechten Noten. Von Fragen, die nicht beantwortet werden konnten. Vom einsamen Stehen in den Ecken des Pausenhofs. Von Zeiten, in denen man jung war. Vom Verprügeltwerden. Vom Sitzenbleiben. Vom Rotwerden in aller Öffentlichkeit. Vom Turnsack. Von alten Unterhosen. Vom hässlichen Gesicht des Lateinlehrers. Vom Körpergeruch. Von Mädchen, die Nein gesagt haben. Es ist eine Hölle aus rotem Ton. Und vielleicht lag es mehr an den Mädchen als am sozialistischen Abitur.
    Oh Gott! Denkt Ohayon.
    Oh Gott! Denkt Conrey.
    Und so entsteht kein Klassenbewusstsein der Erniedrigten, sondern sie stehen nur da. Die beiden. Es wird nichts gesagt. Sie senken den Blick. Sie verharren. Sie versteinern. Sie ziehen sich auf ihr Innerstes zusammen.
    Sie sind an ihre verdammte, menschliche Grenze gekommen.

    Das Gespräch ist endlich in Gang.
    »Philippe ist Geneviève also in den Wald gefolgt. Kannte Philippe sich da in der Gegend aus?«
    »Keine Ahnung.«
    »War er mal bei deiner Großmutter?«
    »Nein.«
    »Was ist dann passiert? Komm, Max!«
    »Thomas und ich haben im Auto gewartet. Ich war kurz weg. Eingeschlafen. Als ich wieder zu mir kam, war Thomas verschwunden. Ich bin raus und hab ihn

Weitere Kostenlose Bücher