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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
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eigentlich? Warum fühlte sie sich so unter Druck gesetzt? Und wenn schon Druck, warum verriet ihr dann nicht wenigstens ihr Gefühl, was sie wollte?Dafür war es doch zuständig. Und warum war Roland seit Tagen weg? Sollte sie die Entscheidung ganz für sich allein treffen? Wie Roland reagieren würde, konnte sie sich ja denken. Er mochte Kinder, und ihn würde das ja auch nichts kosten. Natürlich hatte sie sich auch überlegt, ob sich Kind und Karriere wirklich ausschließen mussten. Und war wenigstens in dieser Frage zu einem Ergebnis gekommen. Ja, natürlich schloss sich das gegenseitig aus, es ging ja nicht um eine nette Halbtagsstelle, sondern um einen Job, bei dem sie jeden Tag zehn oder mehr Stunden im Verlag sein würde. Aber was wollte sie selbst denn überhaupt? Und wer, verdammt, welches System verlangte eigentlich so eine Entscheidung von ihr? Blöde Frage. Es war ihre ureigenste freie Entscheidung, das war ja gerade das Problem. Ja, und am Nachmittag hatte sie dann auch noch eine heftige Auseinandersetzung mit Monsieur Joiet gehabt. Es war zum zehnten Mal um diesen Text von Arthur Schopenhauer gegangen und darum, ob er für die zehnte Klasse geeignet ist. »Das in Ruhe zu diskutieren, stehe ich jederzeit bereit.« Dieser Satz, dieses Betonen von Ruhe, hatte sie platzen lassen wie eine reife Melone. Völlig zu Recht! Seit zwei Monaten diskutierten sie diese Frage. Und immer in Ruhe! Aber jetzt war Schluss mit Ruhe. Für so was fehlte Juliet einfach die Zeit.
    Nachdem Monsieur Joiet ihr Büro verlassen hatte, war sie plötzlich in allem unsicher gewesen. Dabei hatte sie doch eine ganz klare Vorstellung davon gehabt, welche Texte für ihr Lesebuch geeignet waren und welche nicht. Wie auch immer sie sich in der Frage ihrer Mutterschaft entscheiden würde, Monsieur Joiet mit seiner störrischen Art und seinen ältlichen Textvorschlägen war in jedem Fall eine Bremse. Das dieser Staubkopf überhaupt im Verlag arbeitete, verdankte sie einem Erlass aus Paris. Deutscher Denkart sollte mehr Platz im Unterricht eingeräumt werden. Politischer Mist! Ihr Lesebuch sollte den Jugendlichen Spaß machen! An deutscher Denkart hatte sie in diesem Zusammenhang nicht das geringste Interesse. Und schon gar nicht hatte sie den Nerv, »in Ruhe« über so was zu debattieren.
    Als Juliet, beladen mit ihren Einkäufen, die Küche betritt, sieht sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Sina sitzt auf einem Hocker und starrt nach draußen.
    Juliet packt ihre Einkäufe aus, reißt den Sack mit den Kartoffeln auseinander und dreht den Wasserhahn auf. Muss ich sie jetzt fragen, was los ist? Das würde doch vermutlich damit enden, dass Sina eine Menge redete und dabei doch nicht damit rausrückte, weshalb sie so schlechte Laune hat. Nein! Juliet öffnet die Schublade und sucht nach einem geeigneten Messer. Schopenhauer! Einen Kartoffelschäler gibt es im Haushalt von Roland Colbert immer noch nicht. Muss ich daran auch noch denken? Juliet nimmt also ein Messer und fängt an, Kartoffeln zu schälen. Weil aber die Art, wie Sina schweigend auf ihrem Stuhl sitzt, sie immer noch nervt, weil sie doch wieder an die große Entscheidung denken muss, die das Schicksal von ihr verlangt, bleibt nach dem Schälen nicht viel übrig von der ersten Kartoffel. Aber während sie dann die zweite Kartoffel schält und dann die dritte, wird sie allmählich ruhiger. Du musst es nicht heute entscheiden.
    »Ich wollte dir was sagen, Juliet.«
    »Was denn?«
    »Ich hab überlegt, ob ich vielleicht doch nicht mit nach Barcelona fahre.«
    Während der nächsten Minute passieren mehrere Dinge. In der ersten Sekunde schüttet Juliets Körper so viel Adrenalin aus, dass es für einen Vierhundertmetersprint reichen würde. Da das in der Küche natürlich nicht geht, vernichtet sie eine Kartoffel. Dann formuliert sich in ihrem Kopf ein Satz und der unbedingte Wunsch, Sina mal so richtig laut und unpädagogisch anzuschreien. Dann geschieht das aber nicht. Stattdessen wird Juliet von einem Gefühl absoluter Ohnmacht ergriffen, einem Gefühl, das sich in dem jetzt noch stärkeren Wunsch Luft macht, Sina doch noch anzuschreien, was sie aber wieder nicht tut, woraufhin sie sich alt und schlapp fühlt und dann … mittendrin, in all der Verwirrung, springt der Gedanke gewissermaßen aus der Rille.
    Durch Juliets Kopf flackern auf einmal uralte Erinnerungen.Erinnerungen, die absolut nicht dazu geeignet sind, mit der großen Schicksalsfrage fertig zu werden. Hanna … Der Name

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