Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
… Zum Glück bin ich noch nie in eine solche Gewissenslage gebracht worden.«
»Das wäre ja auch schrecklich, oder?«
Der Pfarrer sieht Ohayon an. »Wie meinen Sie das?«
»Na, was für eine schreckliche Situation das für Sie wäre. Dieser Konflikt. Und ich weiß nicht mal, wie das gehandhabt wird. Wie siehst du das, Roland? Macht er sich strafbar? Wenn er uns anlügt oder etwas nicht sagt?«
»Will Ihr Kollege mir Angst machen?«
Ohayon beugt sich vor. »Warum sollte ich Ihnen Angst machen? Es geht ja nur um ein Mädchen. Sechzehn war die. Die hat man totgeschlagen. Und ihr Höschen ist weg und an ihrer Möse hat jemand rumgemacht. Wie würde man so was büßen?« Ohayon wird laut. »Auch totschlagen? Auf höheren Rat hin vielleicht? Oder doch lieber die Beichte?« Ohayon schweigt. Der Pfarrer ist für Schreierei nicht zu haben.
»Ich möchte, dass Sie jetzt gehen. Wer von Ihnen beiden führt hier das Kommando? Sie doch wohl.«
»Ja, er hat das Kommando. Wir gehen trotzdem nicht.«
»Was wollen Sie? Mich weiter anbrüllen? Ich hab Ihnen gesagt, was ich weiß.«
»Ich will, dass Sie es noch mal sagen. Und zwar richtig. Als ganzen Satz, ohne das Drumherum.«
»Wenn Sie unbedingt wollen. Keiner hat einen Mord gebeichtet,und niemand hat sich so verhalten, dass ich glaube, ich müsste das der Polizei mitteilen.«
»Geht doch!«
Beim Rausgehen erklärt Roland Colbert dem Pfarrer, dass Ohayon normalerweise nicht so ist und dass sein Ausbruch vermutlich etwas damit zu tun hat, dass er es war, der der Mutter des Opfers die traurige Botschaft übermitteln musste. Der Pfarrer hat Verständnis und geleitet sie an die Tür. Als er die Tür öffnet, steht dort eine Frau Mitte vierzig.
»Komme ich ungelegen?«
»Nein, Silvia, wir sind gerade fertig.«
Die Frau tritt zur Seite, Roland Colbert und Ohayon gehen an ihr vorbei. Der Pfarrer verlässt ebenfalls das Haus und geht mit der Frau Richtung Kirche.
Als Ohayon und Roland Colbert im Auto sitzen, sagt der Kommissar etwas. Es geht um Ohayons ungebührlichen Ausbruch. Ohayon erwidert etwas, und er tut es mit einer Schärfe und Genauigkeit, die Roland Colbert daran erinnert, dass Ohayon nicht immer der ist, den sie alle so gut kennen.
Er weiß, dass er nicht zappeln darf. Nicht hier, auf dem Kommissariat. Aber er möchte zappeln. Im Moment ist ja keiner da! Also zappelt er ein bisschen. Vor Freude. Weil er so gut funktioniert. Weil sein Verstand, jetzt, wo er von dem Gefühl der Schuld befreit ist, wieder so präzise arbeitet. Er ist unschuldig, für ihn ist es nur noch ein Spiel. Ein Spiel, von dem er weiß, dass es gefährlich sein kann. Aber sonst wäre es ja auch langweilig!
Schon in Saarbrücken, nach seiner Flucht gestern Abend, hat sein Verstand funktioniert. Er hatte sich an Peter erinnert. Und Peter hat noch immer seine Garage. Das mit den Reifen hätte ihm zwar nicht das Genick gebrochen, aber er hätte eine Menge erklären müssen. Das Dümmste wäre es gewesen, neue Reifen aufziehen zu lassen! Dann würden sie fragen: »Wieso haben Sie neue Reifen, wo sind die alten?« Da hätte er auch gleich die alten Reifen drauflassen können. Dasimmerhin hatte er in den schlimmen Jahren gelernt. Planen. Schritt für Schritt. Sich selbst und seine Gedanken infrage stellen. Als er in Saarbrücken im Hotelbett lag, war er alles gründlich durchgegangen. Er brauchte einen Grund, falls sie seine Frau fragten. Die würde sagen: »Mein Mann war letzte Nacht in Saarbrücken.« Sie würden zu ihm kommen und fragen: »Was wollten Sie in Saarbrücken, waren Sie auf der Flucht?« Er wusste, was er dann antworten würde: »Ich wollte mir schon seit Wochen die Ausstellung im Kunsthaus angucken!« »Haben Sie Ihre Eintrittskarte noch?«, würden sie fragen. Also war er vom Hotel aus zum Museum gegangen und hatte gesucht, bis er im Mülleimer eine Eintrittskarte fand. Abgestempelt um 17 Uhr 10. Bis halb vier waren die beiden Bullen in der Schule gewesen. Danach konnte er es leicht bis nach Saarbrücken geschafft haben. Die mit 17 Uhr 10 war eine gute Eintrittskarte. Und die steckte jetzt in seinem Portemonnaie. Dann, so würde er erklären, hatte er sich wegen der Straßenverhältnisse entschlossen, in Saarbrücken zu übernachten. Morgens war er dann zu Peter gefahren, das würde er natürlich nicht sagen, und Peter hatte ihm einen Satz gut erhaltener Altreifen aufgezogen. Seine waren sowieso runter. Seine Verbindung zu Peter würden sie nie rauskriegen. Nicht mal seine Frau
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