Schneesterben
Viertelstunde, bis er begriff, daß keiner vom Ortsbeirat seinen Platz einnehmen würde, bevor nicht der Ortsvorsteher vernehmlich dazu aufgefordert hatte. Er kam sich ein bißchen wie ein Hochstapler vor, als er stellvertretend »Meine Herren, die Sitzung ist eröffnet« sagte, was ihm ungewollt salbungsvoll von den Lippen ging und prompt eine frivole Handbewegung von Willi eintrug.
Die Tagesordnung wurde lustlos abgehakt. Erst beim Punkt »Sonstiges« hob sich die Stimmung.
»Kann man mal was gegen die Hundescheiße in der Flußaue machen?« Harry hielt die Hand hoch und schaute mit großen Eulenaugen hinter der Brille in die Runde. Wunderbare Frage, dachte Bremer. Eine, die er nie gestellt hätte. Er war davon ausgegangen, daß es außer ihn niemanden groß störte, wenn sich neben den Kuhfladen auch Hundehaufen auf der Wiese und auf dem Feldweg einfanden, Natur zu Natur, sozusagen.
»Genau! Du hast die Kacke überall, an den Reifen, an den Stiefeln, im Stall. Und das stinkt derartig!«
»Dann das ewige Gebrüll. ›Hieerheeer, Bello!‹ Wenn die Leute ihre Tölen nicht im Griff haben, dann soll man…«
»… sie erschießen«, ergänzte Harry zufrieden Willis Satz.
»Hast du schon mal gesehen, wie der Verrückte mit dem Bart zur Glatze, dieser, na, Dingens…«
»Antiquitätenhändler.« Bremer kannte neuerdings jeden, auch das Ehepaar aus Bochum, das eine Art Berliner Mauer um sein von drei unerzogenen Hunden besetztes Grundstück gezogen hatte.
»Wie dieser Antikheini mit seinen Riesenkötern durch die Gegend rennt? Der hat sie doch nicht mehr alle! Die sind doch gemeingefährlich!«
Nemax war kürzlich fast bis in die Spitze eines Baumes am Ufer geflohen, als die drei Untiere auf ihn zugaloppiert waren. Auf Bremer als Fels in der Brandung war der Kater gar nicht erst gekommen.
»Und habt ihr mal gesehen, was die komische Witwe macht, ihr wißt schon, die mit dem Kupferdach auf dem Haus?«
Jeder kannte sie. Die etwas exzentrische Dame wohnte, wie auch der Antikheini, »Im Wiesengrund«, im etwas besseren Neubauviertel der Umgebung.
»Sie parkt ihren Mercedes auf dem Feldweg.«
»Und versperrt jedem den Zugang zur Pferdekoppel.«
»Und dann jagt sie ihren fetten Pudel aus dem Auto!«
»Und bleibt selbst breit und bräsig drin sitzen.«
Die Anwesenden erwärmten sich am Thema. Niemand hielt viel von den freilaufenden Hunden aus dem Neubaugebiet – die einen, weil Tiere nützlich zu sein hatten, und das waren Köter nur, wenn sie an der Kette lagen und bellten, wenn wer kam. Die anderen, wie Gottfried, weil sie Hunde mißbilligten, die nicht gehorchten. Der alte Fritz, Gottfrieds wunderbarer Weimaraner, war ein Muster an Disziplin gewesen, und der junge Franz, sein Nachfolger, würde höchstens hinter dem Rücken seines Besitzers nach Katzen schielen. Bremer selbst mochte die meisten Vierbeiner, aber wer Fahrrad fährt, entwickelt eine natürliche Abneigung gegen Tiere mit entblößtem Gebiß, die dem Radfahrer in die Speichen springen oder an die Waden gehen möchten.
»Ich schlage vor, daß wir ein großes Schild aufstellen – ihr wißt doch: so ein Verbotsschild, auf dem man einen kackenden Hund sieht – rot durchgestrichen!«
Man beauftragte ihn damit, ein solches Schild zu beschaffen und deutlich sichtbar anzubringen.
»Und könnte sich nicht Gottfried mal auf die Lauer legen und den Kerlen mit dem Luftgewehr eins aufbrennen?« fragte Harry unschuldig.
»Wenn du die Besitzer meinst – gern!« Gottfrieds Augen funkelten.
Die Erwähnung von Distanzwaffen führte nahtlos zum nächsten Thema. Klein-Roda erlebte seit gut einem Jahr eine Invasion von Elstern, schwarzweiße Rabenvögel, die Bremer früher mal für schön und intelligent gehalten hatte. Jetzt, seit sie die Blutbuche auf dem Friedhof besiedelten und sämtliche Singvögel verjagten oder ausrotteten, fiel auf, wie häßlich die Tiere kreischten und daß ihre Verdauungsrückstände, die zielsicher auf dem polierten Grabstein des letzten Bürgermeisters landeten, dort Spuren für die Ewigkeit einätzten.
»Abknallen. Alle. Ohne Ausnahme«, verkündete Willi.
»Jagdverbot«, wagte Bremer einzuwenden. »Die Tiere sind geschützt.«
Das brachte ihm einen ironischen Blick seines Nachbarn ein. »Ich dachte, du hättest deine Öko-Phase hinter dir!«
Bremer hatte jahrelang als sentimental gegolten, weil er wildfremde Katzen durchfütterte, Igel rettete und Unkraut leben ließ. »Öko ist hier nicht das Problem.« Er versuchte
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