Schneesterben
gesehen.
Als er zum Haus zurückkam, stand Krista in der Haustür und starrte auf das, was er in der Hand hielt.
»Der Stein«, flüsterte sie.
Bremer massierte sich die schmerzende Schulter, während er ihr ins Haus folgte. »Was heißt hier ›der Stein‹? Das ist ein verdammter Klinker, Krista, den dir jemand durchs geschlossene Fenster geworfen hat.« Wobei er zufällig mich getroffen hat, dachte er. Eigenartiger Zufall.
Sie nahm ihm den Stein aus der Hand und legte ihn behutsam auf den Tisch, neben den Katalog, den er ihr mitgebracht hatte. Dann zog sie die Tischschublade auf und nahm etwas heraus – einen ungeduldig aufgerissenen Briefumschlag.
»Das lag heute morgen im Briefkasten. Ohne Briefmarke.«
Bremer zog einen mehrfach gefalteten Bogen aus dem Briefumschlag. »Dein Mann war ein Kindermörder« konnte man lesen, sobald man sich an das Schriftbild gewöhnt hatte. Es war fast rührend: Jemand hatte sich die Mühe gegeben, Buchstaben für Buchstaben, verschieden große und verschiedenfarbige, aus Zeitungen und Zeitschriften auszuschneiden und aufzukleben.
Bremer blickte auf. Krista sah nicht verängstigt aus. Sie wirkte müde und angeekelt. »Ich wüßte gern, wer mir sowas in den Briefkasten wirft.«
Freie Auswahl, dachte Bremer. Fast alle kamen in Frage. Jedenfalls diejenigen, die dem Kinderarzt Thomas Regler den Tod des kleinen David Ferber zur Last legen und die sein trauriges Sterben für irgendwie verdient halten.
»Hast du die Polizei angerufen?«
»Wegen sowas? Ich bitte dich.« Sie hatte die Fäuste geballt und in die Taschen der Jeans gesteckt, die ihr, schien Bremer, zu weit geworden waren.
»Wer dir ›sowas‹ in den Briefkasten steckt, scheint auch mit Steinen nach dir zu werfen.« Nach ihr? Nach mir, dachte Bremer. Und mir hätte man fast das Haus angezündet.
»Sie mögen mich hier nicht, ich weiß schon. Macht nichts – ich bleibe.« Kristas Stimme klang plötzlich nach neuer Entschlossenheit. Aber Bremer vermutete, daß ihr keine Wahl blieb. Ohne Thomas’ Gehalt war das Haus in Feldern nicht zu halten.
Sie nahm ihm den Brief aus der Hand.
»Krista – das mit Thomas…«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber reden.«
»Aber…«
Kristas Gesicht hatte alle Weichheit verloren. »Ich komm’ schon klar«, sagte sie.
»Und ›der Stein‹?«
Jetzt lächelte sie, aber ohne Wärme. »Ist doch nur ein verdammter Klinker.«
Na bitte. Er drehte sich zur Haustür. Und dann drehte er sich wieder um.
»Wenn du mal meine Katzen siehst…« Sie nickte ohne Anteilnahme.
Bremers Blick fiel auf den Stein und auf den Katalog, der daneben lag. Umstandsmoden. Tamara schien nicht die einzige zu sein, die schwanger war.
Krista – schwanger von einem Toten? Hansen oder Regler, sagte eine zynische innere Stimme. Beide perdu.
Er drehte sich um und ging.
38
Frankfurt
S ei kein hirnloses Huhn, sagte sich Karen Stark. Bloß weil ein Mann das Selbstverständliche tut, mußt du nicht gleich dahinschmelzen.
Aber es half nichts. Ein unerklärliches Glücksgefühl hielt sie besetzt, seit Gunter Carstens wieder zurück war und so tat, als ob alles beim alten wäre. Oder vielmehr – als ob alles wie vorher wäre, vor der Hauptverhandlung gegen Krista Regler und vor ihrem Streit. Er schickte SMS und Mails, er rief an, er wollte sich mit ihr verabreden. Sie zierte sich noch. Aber nicht mehr lange – so wie sie sich kannte.
Zwischendrin gab es gottlob zu tun.
Die Obduktion Thomas Reglers hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Der Arzt war gesund gewesen und in jeder Hinsicht normal – bis auf eine Besonderheit: bei der äußeren Leichenschau wurde eine Sterilisationsnarbe an seinem Penis festgestellt. Das wunderte sie. Ein Kinderarzt, der keine Kinder wollte?
Der Tathergang schien ebenfalls klar – einer der Mithäftlinge Reglers hatte die Tat in allen Details geschildert. Der Mann behauptete unwiderlegt, er sei an den Quälereien nicht beteiligt gewesen und habe vergebens versucht, über die Gegensprechanlage einen Beamten herbeizurufen. Keiner der in dieser Nacht Diensthabenden wollte indes etwas gemerkt haben. Die Sprechanlage in Strafraum 213 habe vor ein paar Wochen schon einmal einen Wackelkontakt gehabt, gab einer der Beamten an. Bei einer Überprüfung erwies sich die Anlage als einwandfrei.
Die vier Täter gestanden die Vergewaltigungen, nicht aber eine Tötungsabsicht. Sie seien betrunken gewesen. In der Tat hatte man bei einem von ihnen noch am Morgen 1,6
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