Schneesterben
Jungen unerträglich.
»Peter – nun ja, da lagen die Dinge anders. Ich hätte ihn als unreif für sein Alter bezeichnet. Und dann sein Äußeres… ›Fledermaus‹ nannten ihn die anderen. Wegen seiner Ohren.«
O Gott, dachte Karen. Dem armen Jungen wurde wahrscheinlich von morgens bis Schulschluß – und danach! – die Hölle heiß gemacht. Daß Erwachsene stets zu vergessen scheinen, wie unbarmherzig Kinder sein können.
»Es war sicher nicht das Richtige für ihn, diese enge Bindung an Johannes. Manchmal dachte ich – er ist ihm hörig. Was sich Johannes ausdachte, führte Peter blind aus. Das letzte Mal, als sie die Schule schwänzten, waren sie nach Feldern getrampt, hatten sich im Stehcafé am Marktplatz einen Kaffee geteilt und versucht, Zigaretten zu schnorren.«
Das gehört ja wohl zu den eher harmlosen Vergnügungen pubertierender Jugendlicher. Karen erinnerte sich mit heiterer Dankbarkeit an das Tchibo-Café in Bockenheim, in dem sie die Turnstunden verbracht und die ersten Zigaretten geraucht hatte.
»Ganz kurz habe ich mir sogar die Hoffnung gemacht, daß sie sich mit dem Schulprojekt beschäftigten. Das sollten die Schüler zwar in ihrer Freizeit tun, aber Johannes hatte sich am Projektthema besonders interessiert gezeigt, und wenn er beim Schuleschwänzen mal etwas Sinnvolles täte…«
Wie naiv konnte man sein? Karla Becker war offenbar eine nette, eine gute, eine liebenswerte Lehrerin gewesen, die keine Ahnung von der Natur der Menschen und ihrer Schutzbefohlenen hatte.
»Ich muß wohl erklären, worum es sich bei unserem Projekt handelte, zumal es ja mehr oder weniger mit den schrecklichen Ereignissen in Zusammenhang steht. In jedem Halbjahr wird ein Schulprojekt ausgewählt, in dem sich die Schüler mit einem Thema besonders intensiv auseinandersetzen. In den Jahren davor hatten wir schon Heimatkundliches aller Art; zum Beispiel beschäftigten wir uns mit der Lage der Kleinbauern im 19. Jahrhundert und mit dem Lebensalltag einer Bäckersfamilie. Diesmal war die Zeit des Nationalsozialismus dran. Wir haben uns im Unterricht der 6. und 7. Klassen sehr intensiv mit der amerikanischen Fernsehserie über den ›Holocaust‹ beschäftigt. Die Kinder sollten erforschen, wie es in unserem Landstrich, in dem die Menschen stets besonders eng zusammenlebten, damit aussah – was hatte man mitgekriegt, was wurde verdrängt, erinnert man sich heute noch an die jüdischen Nachbarn und an die Zwangsarbeiter und so weiter. Die Kinder sollten nach Spuren der Vergangenheit fahnden.
Ich habe immer gedacht: das ist Heimatkunde, wie sie sein sollte. Lebendiger Geschichtsunterricht. Kritisch und human. Es sollte die Kinder vertraut machen mit den Erinnerungen der Älteren, sollte das Schweigen durchbrechen, sollte den Familien die gemeinsame Geschichte wiedergeben. Ich hätte nicht geglaubt… Ich habe die Vorwürfe gegen mich nie verstanden.«
Karen erinnerte sich an solche Projekte. Klar, es war gut, die Kinder zu interessieren für das, was für dieses Land so bestimmend war. Andererseits, im Klima dörflicher Enge – das konnte ungemütlich werden. Sie hörte Bremer gegen ihre Vorurteile den blöden Bauern gegenüber wettern und lächelte in sich hinein.
»Natürlich gab es ältere Menschen, denen die ganze Richtung nicht paßte. Ich wolle in der Vergangenheit und damit im Schmutz wühlen, die Kinder gegen ihre Großeltern aufbringen, Nachbarn gegen Nachbarn hetzen und was es sonst noch so gab an Anwürfen aus einer bestimmten Ecke. Ich mußte mir sogar anhören, daß mich das alles nichts anginge, weil ich nicht dabeigewesen war. Und auch nicht von hier sei.
Und dann, hinterher, hat man mir vorgeworfen, ich hätte Johannes und Peter auf die Idee gebracht. Auf die Idee mit dem Tunnel, in dem die Nazis die Zwangsarbeiter quälten.
Ich. Ich sollte der Sündenbock sein.«
Karen überflog den Rest der Aussage von Karla Becker. In der Tat hatte schon der Prozeß gegen die Beschuldigten in der Sache Martin Brandt auf weite Strecken wie eine Anklage gegen die Lehrerin gewirkt. Insbesondere die Verteidigung versuchte, die beiden Angeklagten als Verführte darzustellen, als Nachahmungstäter, die Nazis hatten spielen wollen: Ob die Kinder nicht viel zu jung gewesen wären, um sie mit den Schreckensgeschichten aus dem Dritten Reich zu konfrontieren? Ob das, was Frau Becker ihren »Projektunterricht« genannt hatte, nicht in Wirklichkeit die Aufforderung zum Schuleschwänzen gewesen sei? Ob sie die Kinder
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