Schneestille
mich allein hatte.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, wie lange ist die Lawine jetzt her?«
»Ähm? Das war erst gestern Morgen. Unglaublich.«
»Meine Rede. Erst gestern Morgen. Aber mir kommt es vor, als sei es schon unglaublich lange her.«
»Du hast recht. Mir auch.«
»Lange her, seit wir uns beinahe verloren hätten. Wir wären fast gestorben, Jake. Und seitdem scheint jede Sekunde sich ins Unendliche zu dehnen, und das liegt daran, dass nur du …«, sie hob das Glas, um mit ihm anzustoßen, »… und ich da sind.« Wobei sie sich in dem leeren Restaurant umschaute. »Alle anderen stehlen uns bloß Zeit. Ich könnte fast noch ein paar Tage hierbleiben, einfach so, aus purem Trotz.«
»Meinst du, wir stehen auch auf der Spezialkarte?«
»Was?«
»Gottes Spezialkarte. Der Spezialkarte der Natur. Alle anderen stehen auf der normalen Karte, aber wir wurden verschont, weil wir auf der Spezialkarte stehen.«
»Seltsame Vorstellung.«
Er lächelte sie schief an. »Bald sind die anderen alle wieder da.«
»Ich weiß. Und wir brechen morgen in aller Frühe auf. Komm, lass uns ins Bett gehen.«
»Du bist betrunken.«
»Nimm den Rest der Flasche mit, so teuer, wie die ist.«
Sie war tatsächlich betrunken. Als die Aufzugtüren sich öffneten, schubste sie ihn hinein und stürzte sich sofort auf ihn. Kaum hatten die Türen des Fahrstuhls sich hinter ihnen geschlossen, warf sie sich ihm an den Hals und biss ihm in die Lippen, fummelte ungeduldig an seinem Gürtel herum und zog ihm die Hose herunter. Dann ging sie in die Knie und nahm ihn in den Mund. Er drückte mit dem Ellbogen auf einen der Knöpfe des Lifts, und die Türen gingen auf.
Jake wurde stocksteif. »Entschuldigen Sie, Sir«, rief er. »Meine Frau ist sicher gleich fertig.«
Zoe hielt inne und schaute auf, als erwartete sie fast, tatsächlich einen schockierten Hotelgast im Foyer stehen zu sehen. Sie nahm einen großen Schluck aus der Flasche, schluckte und nahm seinen Schwanz wieder zwischen die Lippen.
Die Aufzugglocke läutete, und die Türen schlossen sich hinter ihnen.
»Aufwachen.«
Zoe stöhnte. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einer Axt gespalten. Jake war schon angezogen, stand neben dem Bett und hielt ihr eine Tasse dampfenden Kaffee unter die Nase.
»Wie spät ist es?«
»Zeit zu gehen.«
»Echt?«
»Es schneit schon wieder. Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen. Wird sicher mindestens vier Stunden dauern, das nächste Dorf zu erreichen. Es schneit richtig heftig, und bei dem ganzen Schnee, der da runterkommt, steigt ständig die Lawinengefahr. Würdest du also bitte gefälligst deinen süßen kleinen Hintern aus dem Bett bewegen!«
»Der billige Champagner hat mich umgehauen«, brummte sie und schleppte sich widerwillig unter die Dusche.
Er hatte ihr Frühstück ans Bett gebracht, Toast und Brötchen, Käse und Salami. Er hatte einen Rucksack gepackt. Während sie noch geschlafen hatte, war er schon draußen gewesen und hatte in einem der Läden einen Rucksack aufgetrieben, eine Taschenlampe und einen Kompass.
Ehe sie aufbrachen, musste er sich hinsetzen und den Kopf in den Nacken legen, damit sie ihm Tropfen in die Augen geben konnte. »Du siehst immer noch aus wie ein Zombie. Rot, blau, schwarz. Wie eine Zielscheibe beim Bogenschießen.«
»So sieht doch keine Zielscheibe aus.«
»Ach, halt die Klappe. Jetzt du bei mir.«
Um halb acht brachen sie schließlich auf. Der Schneefall war noch dichter geworden. Die Wolken über ihnen sahen aus wie gebogener Stahl, und wiewohl die Flocken klein und leicht waren, fielen sie doch dick und reichlich. Und dazu hatte sich ein feiner Nebel herabgesenkt.
Sie folgten der Straße. Bald schon passierten sie das Polizeiauto, dessen Reifen noch immer über dem Abgrund in der Luft baumelte. Der Schnee hatte sich wie eine dicke Zuckerschicht auf Dach und Motorhaube gelegt. Jake blieb stehen und betrachtete es wehmütig. Der Nebel wurde immer dichter, und Zoe sagte ihm, er solle nicht mal im Traum daran denken.
Der Weg stieg nun steil an. Nach einer halben Stunde Bergaufwanderns war der Schneenebel beinahe undurchdringlich geworden. Er war bleigrau mit irisierenden Flecken, dort, wo das Licht sich darin verfing. Unbeirrt stapften sie weiter, sahen aber kaum, wo sie hinliefen.
Nach einer Weile kam Jake von der Straße ab und verdrehte sich den Knöchel.
»Mir gefällt das nicht«, erklärte Zoe. »Wir laufen blind durch die Gegend.«
»Geht
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