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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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schon. Geht schon. Wir brauchen bloß auf dem Asphalt zu bleiben.«
    »Ich kann den Asphalt nicht mal sehen. Geschweige denn ihn fühlen.«
    Jake nahm den Kompass aus der Tasche. Dann ging er in die Hocke und legte ihn sich auf das Knie. »Da ist Norden, und wir müssen nach Westen. Alles bestens. Lass uns weitergehen.«
    Er klang sehr optimistisch, doch Zoe teilte diese Zuversicht nicht und traute ihr auch nicht. Er war da ganz anders als sie. Schon als kleiner Junge hatte er gelernt, sich immer zuversichtlich und selbstsicher zu geben, auch wenn ihm ganz anders zumute war, und inzwischen merkte sie ihm das an der Nasenspitze an. Ihr dagegen hatte man beigebracht, auf ihr Bauchgefühl zu vertrauen und sich davon leiten zu lassen. Wobei sie mit ihrer Methode genauso oft richtig und genauso oft danebenlag wie er mit seiner.
    Sie gingen es langsam an, hielten sich an den Händen und gingen manchmal auch am äußeren Straßenrand entlang. Der Weg war kurvenreich und wand sich mal nach links, mal nach rechts quer durch die Berge, und sie folgten ihm beinahe blind und im Schneckentempo. Und dann kam Zoe wohl einen Schritt von der Straße ab, denn plötzlich versank ihr Stiefel im Schnee, und der reichte ihr unvermittelt bis zur Hüfte.
    »Das macht mir Angst, Jake. Es macht mir einfach Angst. Wir könnten so leicht von der Straße abkommen. Warum suchen wir uns nicht ein geschütztes Plätzchen und machen eine halbe Stunde Pause? Und warten mal ab, ob sich der Nebel vielleicht ein bisschen lichtet?«
    »Der lichtet sich nicht.«
    »Woher zum Teufel willst du das wissen?«
    »Der hält sich heute den ganzen Tag. Das sieht man doch. Wenn wir uns jetzt irgendwo hinhocken, wird uns bloß kalt. Wir müssen weitermarschieren.«
    Und das taten sie dann auch. Und nach weiteren zehn Minuten fegte ein Windstoß den Nebel für einen Augenblick beiseite und gab den Blick frei auf eine Straßenkreuzung, an der sich der Weg gabelte. Gleich darauf wurde das Bild der sich teilenden Straße auch schon wieder vom dichten Nebel verschluckt. Es schneite noch heftiger.
    Jake kauerte sich wieder mitten auf die Straße und nahm den Kompass heraus.
    »Was ist das denn?«
    Zoe kniete sich neben ihn und beäugte misstrauisch den Kompass. Die Nadel drehte sich, als suchte sie verzweifelt nach der richtigen Richtung.
    »Du hältst ihn nicht gerade. Du musst ihn ganz gerade hinlegen.«
    Also fegte Jake mit seinen Skihandschuhen etwas Schnee beiseite und legte dann den Kompass auf die Straße. Doch die Nadel kam einfach nicht zur Ruhe und drehte sich unbeirrt im Uhrzeigersinn im Kreis. Dann blieb sie stehen. Nur um sich gleich weiter zu drehen, diesmal gegen den Uhrzeigersinn.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Zoe.
    Jake gab keine Antwort.
    Sie packte den Kompass, schüttelte ihn, legte ihn wieder in den Schnee. Die Nadel suchte weiter den magnetischen Nordpol und wollte einfach nicht stehen bleiben.
    »Der ist hinüber.«
    »Hat aber tadellos funktioniert, als ich ihn geholt habe«, wandte Jake ein. »Tadellos.«
    »Aha.«
    »Hat er. Er hat tadellos funktioniert.«
    »Wenn du meinst.«
    »Wenn ich meine? Was soll das denn heißen? Wenn ich meine?«
    »Das heißt, wir kehren um.«
    »Auf keinen Fall!«
    »Jake, wir laufen jetzt, wie lange schon, eine Stunde? Wir sind nicht mehr als ein, zwei Kilometer weit gekommen. Wenn du wirklich glaubst, dass wir so je irgendwo ankommen, dann hast du sie nicht mehr alle. Ich mache da nicht mehr mit. Und wie du schon sagtest, hierbleiben können wir schlecht.«
    Worauf sie sich umdrehte und entschlossen den Weg zurückmarschierte, den sie gekommen waren. Es dauerte nur Sekunden, da hatten sie sich im dichten Schneetreiben schon aus den Augen verloren. Einen Moment später rief Jake nach ihr.
    »Ich bin doch hier!«, brüllte sie zurück.
    Unvermittelt tauchte er aus dem Nebel auf und packte sie an der Jacke. »Lass das, Zoe!«
    »Was soll ich lassen?«
    »Du kannst nicht einfach so weglaufen! Wir müssen zusammenbleiben. Dir scheint nicht klar zu sein, dass wir uns hier draußen im Handumdrehen verlieren könnten. Das geht blitzschnell! Wir sind in den Bergen, und hier ist weit und breit niemand außer uns! Niemand! Das ist kein lustiger Sonntagsspaziergang!«
    »Okay.«
    »Du musst den Bergen mit Respekt begegnen.«
    »Ich hab doch okay gesagt, oder nicht?«
    Sie standen im Schnee, der um sie herumwirbelte, die Nasen knapp zwei Handbreit voneinander entfernt, und konnten doch kaum das Gesicht des anderen

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