Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce

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Sieh dir das an!«
    Auf dem Teppich vor der Tür lagen ein paar kleine schmutzige Eisklumpen, die sich gerade von eisigem Kristall in Schmelzwasser verwandelten. »Das kann auf keinen Fall von unseren Stiefeln stammen.« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Der Schnee von unseren Stiefeln wäre schon vor Stunden geschmolzen. Es war jemand hier. Der Schnee beweist doch eindeutig, dass jemand hier war.«
    Jake drehte sie herum und schob sie wieder ins Zimmer. Dann machte er die Tür hinter sich zu, und zum ersten Mal seit der Lawine schloss er ab und hängte das Kettchen ein.
    »Wir sind hier nicht allein«, erklärte Zoe.
    »Das weißt du doch gar nicht.«
    »Weiß ich wohl. Hier sind noch andere.«

9
    In der Tür des Hotels zögerten sie kurz; sie waren zwar ausgerüstet für eine Tour auf den Berg, aber eine unterschwellige Angst begleitete sie. Die Welt – die Schattenwelt, die Welt des Todes, des Sterbens – hatte sich wieder einmal verändert. Die eigentlich naheliegende Vermutung, dass sie auf den weitläufigen, puderzuckrigen und tief verschneiten weißen Hängen nicht allein waren, veränderte alles.
    Jake versperrte Zoe mit dem Arm den Weg durch die Tür nach draußen. »Ich glaube, ich weiß, was da los war«, meinte er. »Ich glaube, ich hab’s kapiert. Am Morgen der Lawine müssen noch andere Menschen draußen gewesen sein. Andere Menschen, die auch in der Lawine umgekommen sind.«
    »Und?«
    »Ich glaube, du hast gestern Abend einen davon gesehen. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Und mit dem Mann am Telefon ist es dasselbe. Wenn wir nicht die Einzigen waren, die in der Lawine gestorben sind, dann müssen noch andere da sein. Die auch hier festsitzen. Genau wie wir.«
    »Und meinst du, die suchen uns, Jake? Ich will nicht, dass die uns suchen.«
    »Du brauchst keine Angst zu haben. Was, wenn es nur ein einziger Mann ist, der verzweifelt versucht, uns zu erreichen? Stell dir mal vor, wie schrecklich es wäre, hier ganz allein zu sein.«
    »Aber was will der denn von uns? Was wollen die von uns? Wie sehen sie aus?«
    »Natürlich sehen die aus wie wir.«
    »Das weißt du doch gar nicht. Vielleicht wurden manche ja bei dem Lawinenabgang schrecklich verstümmelt und entstellt.«
    »Wurden wir denn entstellt?«
    »Nein. Aber der Gedanke ist mir schon vorher gekommen. Was, wenn wir einander so sehen, wie wir waren, und nicht, wie wir sind?«
    Jake erschauderte. »Denk darüber am besten gar nicht nach. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sie anders aussehen sollten als wir. Schau mal, das Wetter schlägt um.«
    Und damit wies er auf die Wolken in der Ferne, die sich über den weißen Gipfeln der weit entfernten Bergkette im Osten zusammenballten. Es war ein plumper Versuch, sie abzulenken, aber sie ging dankbar darauf ein; zumindest für den Moment. Austerngrau und korallenrosa schimmernde Wolken rückten heran wie ein luftiges Gespensterbataillon; eine Armee, die sich an den spitzen Hörnern und den Stiernacken des alpinen Gebirgszugs verfangen hatte. Doch sie bekamen Verstärkung von hinten, neue Wolken, die südlich und nördlich von ihnen ausschwärmten. Die rosaroten und grauen Wolken leuchteten derart von innen heraus, dass es atemberaubend und beängstigend zugleich war.
    »Morgenrot«, sagte Zoe, und keiner von beiden wollte die alte Bauernregel beenden. »Was machen wir denn jetzt?«
    »Wir machen genauso weiter wie bisher«, sagte Jake. »Sollten wir jemandem begegnen, verhalten wir uns genauso wie sonst auch. Aber ich möchte, dass du zumindest in Erwägung ziehst, du könntest – könntest, werde nicht gleich wütend – dir diesen Mann nur eingebildet haben, genauso wie den Telefonanruf oder die Menschen im Foyer. Ansonsten darfst du dich der Möglichkeit nicht verschließen, dass wir eventuell jemandem begegnen könnten.«
    Sie wollte etwas sagen, doch er hob die Hand.
    »Frieden.«
    Obwohl Zoe natürlich die Möglichkeit bereits in Erwägung gezogen hatte, das alles könne reine Einbildung gewesen sein, war diese Vorstellung doch in keiner Weise tröstlich. Dass sie überhaupt an diesem Ort waren, schien im Grund eine einzige große Halluzination. Was also sollte man von einer Traumblase innerhalb einer Traumblase halten? Sie waren noch nicht lange genug da, um zu wissen, wie der Hase lief. Wenn sie sich an Geschmack, Geruch, Gefühl irdischer Empfindungen erinnern und sie dadurch Wirklichkeit werden lassen konnten, vielleicht konnten sie dann auch andere Gedanken greifbar machen.