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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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Skier versanken darin wie in Wattewölkchen und glitten so mühelos, dass man den Berg in einem Zustand vollkommener geistiger Abwesenheit hinunterschweben konnte. Irgendwann zwischendurch hatte sie den Hang hinaufgeschaut und festgestellt, dass sie gut und gerne drei Kilometer weit gefahren war, ohne es wirklich mitzubekommen. Es war eine schwarze Nische in einem Meer aus Weiß. Als wäre sie eingeschlafen, ohne es zu merken. Ein kleiner Tod im Tod.
    Doch darüber konnte sie mit Jake nicht reden.
    Sie waren risikofreudiger geworden, waghalsig sogar, verließen die Pisten und fuhren zwischen den Bäumen hindurch, verbanden verschiedene Abfahrten miteinander, indem sie silberne Bergbäche und die gezackten, wie fäulnisfarbene Zähne aus dem Boden ragenden Felsen umkurvten. Immer wieder testeten sie die Grenzen ihrer abgeschlossenen Welt, und ganz gleich, welchem Punkt auf dem Kompass sie auch folgten, immer, jedes Mal, landeten sie wieder in der unmittelbaren Umgebung von Saint-Bernard-en-Haut.
    Sie waren gerade mitten in einem kleinen Kiefern-und Tannenknäuel, das noch dick mit Schnee bestäubt war, und steuerten ihre Skier langsam durch die dunklen Stämme hindurch, als sie an einem zugefrorenen Rinnsal stehen bleiben mussten. Der vereiste Bach sah aus wie ein schmales, verschlungenes Seidenband, geheimnisvoll und traumschön in der märchenhaften Dunkelheit unter den schneebeladenen Zweigen der Bäume. Jake blieb stehen und lauschte.
    »Was ist los?«
    »Pssst. Stille.«
    Wirkliche Stille. Das Gefrieren jeglichen Geräuschs. Es war gar nicht möglich, in der modernen Welt dem Geräusch echter Stille zu lauschen. Vielleicht war das nicht mal in der alten Welt möglich gewesen: In der Wüste wehte der Wind; in der Tiefe des Waldes zirpten die Insekten; mitten auf dem Meer plätscherten die Wellen. Die Natur duldete keine vollkommene Stille. Nur der Tod duldete die Stille; und hier war es still.
    Aber nicht mal hier , dachte Zoe. Denn wenn es ganz still wird, hört man das eigene Blut in den Adern rauschen. Es gab keine Stille. Und außerdem: Just in diesem Moment war noch etwas anderes zu hören. Es brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was das war. Es war das Geräusch des Schnees. Eine gewaltige Maschinerie, bestehend aus unendlich vielen, unendlich kleinen Teilen. Milliarden über Milliarden einzelner Schneekristalle, die zusammen die Schneedecke bildeten, waren dabei, sich voneinander zu lösen.
    Der Schnee sang ihnen etwas vor.
    Ihr Herz klopfte vor Entsetzen und Entzücken. Gerade wollte sie den Mund aufmachen und etwas sagen, als sie, ganz weit entfernt, einen Hund bellen hörte.
    »Hast du das gehört?«, fragte Jake.
    »Ist das Sadie?«
    Er nickte. »Das muss sie sein! Aus welcher Richtung kam es?«
    Wieder lauschten sie.
    Dann hörte Zoe es abermals. Ein einzelnes Bellen. Sie trat näher an den vereisten Bach und beugte sich zu dem gefrorenen Wasserlauf hinunter. »Ich weiß, das klingt jetzt verrückt, aber es scheint direkt aus dem Bach zu kommen. Kann das sein? Kann gefrorenes Wasser Geräusche weiterleiten? Ich meine, angenommen, Sadie ist oben auf dem Berg, könnte das Eis dann ihr Bellen bis hier herunter weiterleiten? Kennst du dich mit so was aus?«
    »Könnte sein«, meinte Jake, die Stimme voller Zweifel. »Wenn eine Vinylplatte oder eine CD das können – warum nicht auch Eis?«
    Wieder lauschte Zoe dem Eis. Von dort, aus dem erstarrten Fließen und Plätschern und Wirbeln des Stroms, drangen nun andere Geräusche. Menschliche Stimmen, kurz und knapp, die laut riefen.
    Ruckartig richtete sie sich auf.
    »Was ist los?«, fragte Jake.
    »Ich will hier weg.«
    »Aber …«
    »Ich muss weg von diesen Bäumen. Jetzt sofort.«
    Sie wartete gar nicht auf ihn. Sie richtete ihre Skier den Hang hinunter und schlüpfte zwischen den dunklen, trockenen Baumstämmen der Fichten hindurch, umrundete schlitternd einen Felsen und hastete durch den Wald, bis der Baumbestand langsam spärlicher wurde und sie schließlich aus den Bäumen hinaus auf die freie Piste steuern konnte.
    Dort wartete sie, bis Jake sie eine Minute später eingeholt hatte.
    »Entschuldige. Ich bin in Panik geraten.«
    »Schon okay«, sagte er. »Ich bin schon seit dem ersten Tag hier in Panik. Jetzt gerade bin ich auch in Panik. Ich kann es nur besser überspielen als du.«
    »Ich habe Stimmen gehört.«
    »Menschliche Stimmen?«
    Sie nickte.
    »Heiliger Strohsack.«
    »Das Eis hat sie weitergeleitet. Keine Frage. Überhaupt gar kein

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