Schneestille
sie ihm einiges von dem, was um sie herum passierte, wissentlich verschwieg. Warum sie das alles für sich behielt, war ihr selbst ein Rätsel. Es war, als hätte ein urtümlicher Teil von ihr panische Angst davor, dass nichts von dem, was hier geschah, etwas Gutes bedeuten konnte. Sie hatte das irrationale, aber einer absoluten Sicherheit, die ihr tief in den Knochen steckte, entspringende Gefühl, dass alles Neue, was passierte, versuchte, sich zwischen Jake und sie zu drängen. Nur bei vollkommenem Stillstand würde alles bleiben, wie es war.
Sie hielt seine Hand fest. Mit das Erste, was ihr an ihm aufgefallen war, als sie sich kennengelernt hatten, waren seine Hände gewesen. Groß waren sie und männlich, aber auch fein und beredt. Er benutzte sie oft, wenn er etwas erzählte. Sie wollte diese Hand für immer festhalten.
Irgendwann schlief sie neben ihm ein.
12
Am Abend darauf fiel der Strom wieder aus. Sie waren gerade im Foyer des Hotels, als das Licht flackerte und ausging. Im ganzen Dorf gingen die Lichter aus.
Es passierte nicht zum ersten Mal, und bisher war der Strom nach kurzer Unterbrechung immer gleich wieder da gewesen. Sie nahmen ein paar Kerzen, zündeten sie an und stellten sie auf die Theke der Rezeption, dann warteten sie. Nach einer Stunde hatten sie noch immer keinen Strom, also gingen sie nach draußen, wo man im Mondlicht besser sehen konnte.
Die Läden und Restaurants lagen nun allesamt im Dunkeln. Im Vorbeigehen wirkten die einzelnen Geschäfte ganz anders als zuvor, irgendwie düster. Schnee und Mondlicht spiegelten sich in den dunklen Glasfronten der Schaufenster als schaurig schwaches blaues Leuchten.
»So lange war der Strom noch nie weg. Was, glaubst du, hat das zu bedeuten?«
Jake sagte nichts darauf; die unbeantwortete Frage gerann in der kalten Luft und folgte ihnen wie ein Schatten, als sie die leere Hauptstraße entlangtrotteten. Ihre Stiefel knirschten im fest zusammengepressten Schnee. Einen Plan hatten sie nicht: Ohne Zweck und Ziel waren sie hinausgegangen in der Erwartung, dass der Strom jeden Moment wieder da sein müsste. Doch als sie am anderen Ende des Dorfs angekommen waren, wo die Häuser aufhörten und einem weiten, offenen Stück Land wichen, das seinerseits vom daran grenzenden dunklen Wald verschlungen zu werden schien, war das Licht immer noch nicht wieder angegangen.
»Da wäre wohl ein Beschwerdebrief an den Ortsbürgermeister fällig«, meinte Jake, doch Zoe war nicht zum Lachen zumute. Schweigend kehrten sie um und gingen denselben Weg wieder zurück.
Auf halber Strecke flackerten im ganzen Ort die Lichter auf, und unwillkürlich stießen beide einen Jubelschrei aus. Dann hörte man auch den Lärm von Generatoren und Turbinen, die irgendwo anliefen, womöglich die der Skilifte, die sie angelassen hatten.
Sie steuerten eine Weinbar an, plünderten die Flaschenvorräte und drehten die Musikanlage auf. Zoe legte »Winter« von Tori Amos auf, weil Jake mal gesagt hatte, bei dem Lied würde er am liebsten immer heulen, was er aber natürlich niemals tat; und sie fragte ihn, ob er sich noch an das erste Mal erinnerte, als sie den Song gehört hatten.
»Nein«, meinte er. »Das weiß ich nicht mehr.«
»Denk nach.«
»Nützt nichts. Alles weg.«
Also erzählte sie es ihm. Es war bei ihrem ersten gemeinsamen Skiurlaub gewesen. Sie hatten es in einer Bar gehört, und Jake war zum Barkeeper gegangen und hatte ihn gefragt, von wem das Lied sei.
»Daran kann ich mich auch nicht mehr erinnern.«
Also erzählte sie ihm, in welchem Urlaub das gewesen war, wo und mit wem sie da gewesen waren, und wen sie alles kennengelernt hatten.
»Nein, da ist nur ein schwarzes Loch.«
»Aber du musst dich doch daran erinnern! Ganz bestimmt! Du musst! Unmöglich, dass du dich nicht daran erinnerst!«
»Tue ich aber nicht.«
Also beschrieb sie ihm die Zimmer, in denen sie gewohnt hatten, die alte Frau, die immer Holz aus dem Schuppen holen musste für den Ofen, mit dem das Badewasser angeheizt wurde, und wie sie sich jeden Abend die Hände ins Kreuz gestemmt, das Gesicht verzogen hatte und dann rausgeschlurft war, um noch mehr Holz zu holen, als sei die Bitte, nach einem Tag auf der Skipiste duschen oder baden zu dürfen, ein unzumutbares Ansinnen. Und sie erzählte ihm, wie dieser Menschenschinder von Skilehrer sie über völlig vereiste Hänge gejagt hatte.
Er konnte sich an nichts von alledem erinnern.
Zwar waren sie schon unzählige Male gemeinsam im Skiurlaub
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